Die letzten ihrer Art

Handwerk hat goldenen Boden heißt es. Aber nicht für immer. Manche Berufe, die vor hundert Jahren noch weit verbreitet waren, sind heute vom Aussterben bedrohte Exoten. Andere erleben eine Renaissance. Ein Besuch bei fünf Gewerken.
 

Schirmmacher Rolf Lippke, Berlin-Wedding © FM Rohm

Schirmmacher Rolf Lippke, Berlin-Wedding © FM Rohm

Punkt zehn Uhr öffnet Schirmmacher Rolf Lippke die Tür seines unscheinbaren Geschäfts in der Weddinger Transvaalstraße. Zwei Kunden betreten den Laden, dessen Einrichtung aus den Fünfziger Jahren stammt. Ein Rentner lässt einen Frauenknirps mit zerschossenem Bezug aufspringen. „Lohnt das noch?“, fragt er unsicher. „Klar“, sagt Lippke nach kurzer Inspektion. „Da muss eine Strebe ersetzt werden. Und er muss neu bespannt werden. Ich bringe Ihnen gleich ein paar Stoffmuster“, erwidert der hochgewachsene Schirmmacher mit unverkennbar sächsischem Akzent. „Was wird das kosten?“, will der Kunde wissen. „30 bis 35 Euro“, antwortet Lippke. Ein neuer Knirps kostet um die 60 Euro. Die nächsten zehn Minuten sieht der Kunde die Muster durch. Welcher Stoff wohl seiner Frau gefallen würde? „Nehmen Sie den blauen mit grauen Streifen, der kommt dem alten Muster am nächsten“, empfiehlt Lippke.

Schirm mit Charme

Der zweiter Kunde holt einen anthrazitfarbenen Herrentaschenschirm heraus. „Streben und Nieten“ sagt Rolf Lippke, „dauert etwa eine Woche. Geben sie mir ihre Nummer, ich rufe Sie an, wenn er fertig ist.“ Das Telefon klingelt. „Ja“, sagt Lippke, lauscht, „ja“ und noch mal „ja. Sie müssen vorbeikommen mit dem Schirm. Kommt drauf an. Wenn nur ein Niet defekt ist, kostet das drei Euro. Wenn es die Strebe ist, 12. Ja, vorbeikommen.“
Er atmet durch. Wenn das sein Großonkel mütterlicherseits erlebt hätte. Dem ginge der Schirm bei trockenem Wetter auf. Achtzig Leute arbeiteten vor hundert Jahren für Josef Müller. Der besaß im damaligen Rumburg, heute Tschechien, eine Schirmfabrik, in der ab 1928 Knirpsschirme bezogen wurden. „Allein acht Vertreter waren unterwegs“, schwärmt Rolf Lippke. Nach dem II. Weltkrieg folgt der Niedergang. 1947 Vertreibung aus der Tschechoslowakei. Neuanfang in sächsisch Ebersbach mit zehn Angestellten. Nach dem Tod des letzten Schirmmachermeisters der Familie entschied sich Lippke, die Firma weiterzuführen. Als er sich nach der Lehre zur Meisterprüfung anmelden will, wird der Beruf des Schirmmachermeisters gerade von der Handwerkerrolle gestrichen.

Schirmmacher Rolf Lippke, Berlin-Wedding © FM Rohm

Schirmmacher Rolf Lippke, Berlin-Wedding © FM Rohm

Aber Lippke gibt nicht auf, arbeitet als Vertreter. 2009 übernimmt er das alteingesessene Schirmgeschäft Metz an der Müllerstraße. Dann folgte der Umzug in die Transvaalstraße. Hinter dem Geschäft liegt eine kleine Wohnung. Da lebt Rolf Lippke von Montag bis Donnerstag. Dann fährt er zurück nach Eberbach zu seiner Freundin. Einfach ist es nicht. „War es für mich nie“, sagt er und fährt sich mit der Hand über den kahlen Kopf.
Hinter den Regalen stehen seine Maschinen. Teilweise mehr als sechzig Jahre alt. Eine Stockschirmfedereinschneidmaschine der Firma Emde aus Solingen. Eine Bezugstoffnähmaschine.
Als nächstes will Lippke mit selbstgefertigten Stockschirmen das Geschäft ankurbeln. Vollholz, aus einem Stück. Mindestens 10 Streben, besser 12, Handaufspannung. „So was gibt es heute kaum noch.“ Zwei Dutzend davon stehen im Regal, dunkel bespannt für die Herren, in Rot mit grauen Streifen für die Damen. 95 Euro kostet einer. „Die halten ein Leben lang“, sagt Lippke. Wenn nicht, dann repariert er sie.
Keine Handvoll Schirmmacher gibt es mehr in Berlin. Vor hundert Jahren gab es dutzende. Das gleiche gilt für Seiler und Messerschleifer. „Einige fast ausgestorbene Berufe wie Schuhmacher und Modisten erleben derzeit eine kleine Renaissance. Handwerk unterliegt wie das gesamte Arbeitsleben den technologischen Veränderungen“, sagt Wolfgang Rink von der Handwerkskammer Berlin. Manche Berufe sterben aus. Wie die Wachszieher, die Bürstenmacher, oder, wenn der 53-Jährige Rolf Lippke aufhört, die Schirmmacher.
Rund 30 600 Betriebe sind in der Handwerkskammer organisiert, in etwa 100 Berufen. In den letzten zehn Jahren hat ihre Zahl kontinuierlich abgenommen. Das liegt zum einen an der Reform der Handwerkordnung vor zehn Jahren, bei der viele Berufsbilder neu definiert wurden. Und am technologischen Wandel der Wirtschaft, besonders durch die Digitalisierung. Knapp ein Sechstel der Berliner Wirtschaftsleistung wird vom Handwerk erbracht, etwas geringer ist der Anteil der Erwerbstätigen, die im Handwerk beschäftigt sind. „Überproportional dazu leistet das Handwerk bei der Ausbildung einen enormen Beitrag. Knapp ein Drittel der Berliner Azubis werden in handwerklichen Berufen ausgebildet“, so Wolfgang Rink.

Gefühl und Härte

Gabriele Sawatzki, Metallbau, Rixdorfer Schmiede © FM Rohm

Gabriele Sawatzki, Metallbau, Rixdorfer Schmiede © FM Rohm

Einer der Ausbildungsbetriebe ist die Rixforfer Schmiede von Gabriele Sawitztki. Als erstes sieht man in ihrer Werkstatt das hellorange Leuchten des über tausend Grad heißen Feuers in der gasbetriebenen Esse. Dann bemerkt man den Geruch. Archaisch, nach Metall, nach Eisen, Gusseisen, Stahl, nach Feuer und Fett. Mordor-Geruch.
Jahrtausende haben unsere Vorfahren mit kleinen Hochöfen aus Erzen Roheisen erschmolzen, daraus Waffen geschmiedet und Werkzeuge hergestellt. „Ich liebe Stahl, aber Waffen mag ich überhaupt nicht“, sagt Gabriele Sawitzki. Die 59-jährige mit aschgrauen halblangen Schnittlauchhaaren ist bekennende Christin. Wenn man sie in ihrer pechschwarzen Montur und den Arbeitsschuhen sieht, kann man sie sich kaum in feinem Zwirn vorstellen. Trägt sie aber auch. Zum Beispiel, als sie 2012 die Franz-von-Mendelssohn-Medaille von IHK und Handwerkskammer für besonderes soziales Engagement erhielt.
Zum Schmiedehandwerk ist sie „wie die Jungfrau zum Kind gekommen“. Ursprünglich studierte die in Bad Fallingbostel geborenen Frau an der damaligen West-Berliner Technischen Fachhochschule Lebensmittel-Technologie mit Ingenieurabschluss.
Dann kam das wilde Jahr 1981 und sie besetzte als Rebellin der evangelischen Studentengemeinde mit anderen ein verfallenes Wohn- und Fabrikgebäude in Kreuzberg.
In der kurz nach der Besetzung eingerichteten Frauenhobbywerkstatt bemerkte sie ihre Begeisterung für das Material Metall. Sie schulte um und begann eine Lehre als Maschinenschlosserin. „Das war damals schon etwas Besonderes, Frauen in diesem Beruf. Wir waren so etwas wie schwarze Schwäne“, sagt sie. Sie bildet nach wie vor aus, der nächste weibliche Lehrling kommt Ende Februar. Aber viele der Frauen, die in den letzten 25 Jahren bei ihr gelernt, gaben nach einigen Jahren auf. „Zu viele dreckige Witze“, vermutet Gabriele Sawitzki. Auf den Baustellen herrsche ein rauer Umgangston. „Die meisten denken, die Arbeit hier sei körperlich anstrengend. Ist sie aber gar nicht. Da arbeiten Pflegerinnen im Altenheim viel härter. Was auf Dauer ermüdet ist, dass es so laut, dreckig und derbe ist“, sagt die Metallbauerin. Ihre beiden Töchter jedenfalls wollen es auf keinen Fall der Mutter nachtun.
Spezialisiert hat sie sich mit ihren drei Angestellten unter anderem auf die Restaurierung von alten Zäunen. „Wir arbeiten verrostete und verbogene Gründerzeitzäune auf. Die sehen hinterher aus wie neu“, sagt sie und zeigt stolz eindrucksvolle Vorher-Nachher-Fotos. Daneben entstehen in der Schmiede Eisentreppen und Stahl-Glas-Elemente für den Loftausbau, aber auch sakrale Gegenstände wie Leuchter oder Kreuze.
Gabriele Sawatzki, Metallbau, Rixdorfer Schmiede © FM Rohm

Gabriele Sawatzki, Metallbau, Rixdorfer Schmiede © FM Rohm

Mit der Zeit ist ein neues Geschäftsfeld hinzugekommen: weil es immer mehr Wohnungseinbrüche gibt, steigt die Nachfrage nach sichereren Türen. Stangenschlösser bei Altbau-Wohnungstüren und mechanische Sicherungen von Balkontüren und Fenstern in Erdgeschoss und Hochparterre sind gefragt. Seit einiger Zeit stellt sie auch Möbel aus Stahl her.
„Stahl ist einkonstruktiver Baustoff. Der Verhüttung von Erzen in großen Mengen verdanken wir den Fortschritt seit der Industrialisierung“, sagt sie und hämmert zum Abschied einen kunstvollen Flaschenöffner. Die schmiedet sie auch, wenn sie ihre Werkstatt für Publikum öffnet. Hin und wieder treten Musiker zwischen Hammer, Esse und Amboss auf.
 

Tradition und Präzision

Ralf Holdorf, Messerschleiferei, Berlin-Friedrichshain © FM Rohm

Ralf Holdorf, Messerschleiferei, Berlin-Friedrichshain © FM Rohm

Marc Staffentien mag es scharf. So scharf wie es nur irgend geht. Deshalb bringt der Koch aus dem Züricher Restaurant „Mère Catherine“ immer, wenn er in Berlin ist, seine Messer zu Ralf und Jan Holdorf in der Frankfurter Allee. Vorsichtig prüft der Koch die Schärfe der Messer mit der Daumenkuppe. Er nickt anerkennend, und zahlt. Zwischen fünf und zehn Euro berechnen Holdorfs pro Schliff, je nach Größe des Messers.
1960 eröffnete der Vater von Ralf Holdorf die Schleiferei an der Frankfurter Allee, Enkel Jan führt nun das Handwerk fort. In dem kleinen Geschäft blitzen in den Regalen Qualitätsmesser der Solinger Traditionsfirmen Herder und Wüsthoff, und der Schweizer Marke Victorinox. In einem speziell gesicherten Schrank lagern Damaststahlmesser des Edelherstellers Hohenmoorer Messer Manufaktur, die mehr als tausend Euro kosten. Auch die seit einigen Jahren stark nachgefragten japanische Santoku-Messer haben Holforfs im Sortiment.
Im Raum nebenan vibriert der Boden. Dort sitzt ein Mitarbeiter an einer elektrisch angetriebenen Schleifscheibe und schärft Messer. „Hauptsächlich für Gastronomie und Kundschaft aus der Nachbarschaft“, sagt Ralf Holdorf, der 59-jährige Seniorchef,. „Auch Sterneköche wie Daniel Achilles oder Wolfgang Müller bringen ihre Arbeitsgeräte zu uns.“ Nach dem Schliff auf den feinen Schleifsteinen werden die Messer bei Holdorfs mit beleimten Filzscheiben poliert. „Nach alter Solinger Art“, betont Ralf Holdorf. Das Finish mit feinem Polierstrich besorgt der Schleifer mit einer sogenannten Läpp-Scheibe. Es verleiht dem Messer einen speziellen, vom Rücken bis zur Schnittkante verlaufenden feinen Glanz. „Gepließt“ lautet der Fachausdruck.
Neben Messern schärfen Holdorfs auch die Scheibenmesser alter Aufschnitt-Maschinen, wie sie in Salumerien und Trattorien wieder en vogue sind, und die von Fleischabteilungen der Supermärkte.
Jan (li) und Ralf Holdorf, Messerschleiferei, Berlin-Friedrichshain © FM Rohm

Jan (li) und Ralf Holdorf, Messerschleiferei, Berlin-Friedrichshain © FM Rohm

Vater Ralf, der zu DDR-Zeiten als Instrumentenschleifer-Meister überwiegend für die Chirurgie und Pathologie der Charité gearbeitet hat, ist froh, dass sein Sohn die Firma weiterführt. „Dieses Handwerk hat Zukunft, denn keine Maschine kann so scharf schleifen, wie ein guter Messerschleifer.“ Sohn Jan betreibt und pflegt auch den Internet-Shop. „Das gehört heute einfach dazu“, sagt der 34-Jährige Juniorchef.
 

Schöneberger Reeperbahn

Sellerie Lusche, Berlin-Schöneberg © FM Rohm

Sellerie Lusche, Berlin-Schöneberg © FM Rohm

Nicolas Lusche empfängt seine Gäste in dem Büro, das sein Großvater Günther vor fast hundert Jahren im rustikalen Stil mit ornamentbemalter Decke und wuchtigen, dunklen Möbeln eingerichtet hatte. Das war 1923, als er in seinem Haus an der Schöneberger Hauptstraße gegenüber der Dorfkirche ein Fachgeschäft für Bindfäden und Seile eröffnete.
Sein Enkel ist ein gut gelaunter, fröhlicher Mensch, dem man anmerkt, wie gerne er ein- und verkauft. Der Verkaufsladen im Souterrain strahlt den Charme der späten Siebziger Jahre aus. Hier finden Kunden unzählige Rollen mit Seilen, Kordeln und Tauen in allen Farben, aus Naturfaser, aus Kunststoff und aus Stahl. „Wenn es in Berlin nicht so viele Wassersportler gäbe, dann sähe es düster für uns aus“, sagt Lusche. So aber verkauft er Seile und Taue, Tampen und Kordeln an die Berliner Bootsbesitzer. „Sie glauben nicht, wie viel Seil man auf einen Boot braucht. Für Anker, für die Segel, als Geländer.“
Seile sind universell und zählen zu den ersten Arbeitsgeräten der Menschheit. Schon die Ägypter haben sie verwendet, um die Pyramiden zu bauen. „Das waren Hanfseile. Die sind enorm strapazierfähig und gehören zu unserer Produktpalette“, erklärt Lusche. In der Werkstatt im Hof, die früher einmal der Heuboden der Pferderemise war, lagern sie und verbreiten ihren speziellen Duft, der an Heu erinnert.
Jedes Jahr zieht Polier
Roman Urbanski, Sellerie Lusche, Berlin-Schöneberg © FM Rohm

Roman Urbanski, Sellerie Lusche, Berlin-Schöneberg © FM Rohm

i etwa hundert 9-Milimeter dicke Hanfseile durch Hanföl in einer alten Badewanne. „Das sind die Schornsteinfegerkehrleinen der Berliner Innung“, sagt Nicolas Lusche nicht ohne Stolz. Durch das Öl bleiben die Leinen geschmeidig und resistent gegen die aggressiven Schonsteinemissionen.
Die Hanfseile bezieht Nicolas Lusche von Herstellern in Hamburg. Sein Vater hat sie noch in der alten Remise aufrollen lassen. Der etwa 20 Meter lange Raum hieß früher Reeperbahn. Auch die berüchtigte Meile in Hamburg hat ihren Namen von den langen Bahnen, die man braucht, um Seile glatt zu ziehen. Die meisten Seile in Sortiment sind jedoch aus Kunststoff oder Stahl.  
Ob eines seiner vier Kinder das Geschäft einmal übernehmen wird? „Eher nicht“, meint Lusche, aber sie hätten noch ein paar Jahre Zeit, sich zu entscheiden. In der Remise steht eine gewaltige Presse, mit der Stahlseile auf die richtige Länge geschnitten und mit einer Öse versehen werden. Die stärksten Stahlseile werden für Kräne produziert. Ein weiteres Geschäftsfeld sind geflochtene Kabelziehstrümpfe, die unter anderem bei der Produktion von Windrädern verwendet werden.
Gerade fertig gestellt wurden dünne, schwarz eloxierte Stahlseile. Das nicht reflektierende Material wird zur Befestigung von Scheinwerfern und Stahlträgern während der Berlinale verwendet.

Endlich den richtigen Hut auf

Petra Benz, Hutmacherin, Berlin-Schöneberg © FM Rohm

Petra Benz, Hutmacherin, Berlin-Schöneberg © FM Rohm

Petra Benz Hüte wollte schon mit 17 Jahren Hüte machen. Modistin war ihr Traumberuf. Doch der Vater im Schwäbischen sagte „Nein!“. Erst sollte das Kind „etwas Ordentliches“ lernen. Nicht so eine Spinnerei, die dem jungen Mädchen bei Besuchen in der Oper in den Sinn gekommen war. Also lernte sie Hotelfachfrau, arbeitete in Hotels und Restaurants in Schwaben, kam 1995 nach Berlin und fand eine Stelle als führende Mitarbeiterin im Bankett des Grand Hotel Esplanade. Doch das war es auch nicht. So machte sie auf der Abendschule ihren Abschluss als Touristikfachwirtin. „Eigentlich war die Karriere programmiert“, sagt sie. Aber das Leben spielte ein anderes Spiel. Die Liebe, zwei Kinder, die Trennung vom Partner, Rückzug nach Schwaben. Dann die Katastrophe: ein furchtbarer Autounfall, bei dem ein Kind starb. Sie brauchte Jahre, bis sie wieder auf den Beinen war. Zog zurück nach Berlin.
Während Petra Benz von ihrem Schicksal erzählt, sitzt sie umgeben von Hüten im kleinen Atelier ihrer Wohnung. Sie hat wieder Fuß gefasst, eine Stelle als Tagungsleiterin gefunden – und macht Hüte. Ihre Augen strahlen, ihre Stimme schwingt voller Tatendrang.
„Mein Traum ist endlich wahrgeworden“, sagt die 48-Jährige, mit sympathisch schwäbischem Akzent. „Das war mein erster“, sagt sie und zeigt auf einen irisch-grünen Damenhut mit schwarzem Hutband im 20-er Jahre-Stil. In dieser Epoche hätte Petra Benz gerne gelebt. „Alle trugen Hüte, Frauen wie Männer, wunderbar.“ Ihr erstes Exemplar hat sie in einem Workshop in Solingen gefertigt, „aus zwei Teilen, das ist eigentlich die Kür.“ Damals gab es keine Ausbildungsmöglichkeiten in Berlin. Aber sie hatte Glück und traf auf dem Flohmarkt am Fehrbelliner Platz eine Hutmacherin, die ihr anbot, ihr zu helfen. Von ihr bekam sie alte hölzerne Formen, Grundstock der Hutmacherei.
Nur die Rohlinge aus Haarfilz oder Wollfilz kauft Petra Benz ein, alles andere wird per Hand gemacht. Zuerst überlegt sie sich eine ungefähre Form und „zieht den Filz“. Dabei wird der Rohling, der wie eine Mütze aussieht, feucht gemacht, mit dem Bügeleisen erhitzt und in Form gezogen. Eine Arbeit, die neben Kraft auch große Geschicklichkeit und Phantasie erfordert. Man unterscheidet einfach gezogene Modelle und Modelle aus zwei Teilen. Bei den Modellen mit Krempe wird eine runde Kopfform hergestellt, und anschließend der Rand angenäht.
Ihre Inspirationen holt sich die Hutmacherin beim Betrachten alter Filme, in der Oper und beim Bummel über Flohmärkte. Der Arbeitsprozess ist bisweilen langwierig. Manchmal wisse sie lange nicht, wie ein angefangener Hut weitergehen soll. Da helfe nur Ausdauer und ungewöhnliche Arbeitszeiten. „Wenn der Geistesblitz kommt, fange ich mitten in der Nacht an zu arbeiten“, erzählt sie und lacht über sich selbst.
Petra Benz, Hutmacherin, Berlin-Schöneberg © FM Rohm

Petra Benz, Hutmacherin, Berlin-Schöneberg © FM Rohm

Ein eigenes Geschäft hat Petra Benz nicht. „ Da sind Kosten und Risiko noch zu hoch.“ Sie nutzt das Internet und die Plattform daWanda für ihr „Engelshüte“, die sie seit Dezember unter Cappello-di-angelo anbietet. Die Ergebnisse können sich tragen lassen. Hauptsächlich Frauenhüte modelliert sie. „Frauen tragen heute wieder Hut“, freut sich die Modistin. Demnächst will sie handgefertigte Brauthüte anbieten. Zu Weihnachten ist sie über ihren Schatten gesprungen. Sie hat ihrem Vater einen Hut geschenkt. „Er trägt ihn sogar.“

Schirmmacher Rolf Lippke, Transvaalstraße 46, Berlin-Wedding, Tel. 451 59 89, www.schirmmitcharme.de

Rixdorfer Schmiede, Bürger Straße 17, Berlin-Neukölln, Tel. 694 22 32, www.rixdorferschmiede.de

Seilerei Lusche, Hauptstraße 119, Berlin-Schöneberg, Te. 788 93 80, Mo-Fr 8-17 Uhr, www.lusche-seile.de

Messer Holdorf, Frankfurter Allee 78, Berlin-Friedrichshain, Tel. 291 15 76, Mo-Fr 9.30-18.30, Sa 10-14 Uhr, www.messer-holdorf.de

Petra Benz, Hüte, Berlin-Schöneberg, Tel.  www.eventengele.de und DaWanda Shop: "Petra-Benz-Berlin"

Ausgestorbene Berufe

Türmer

Unverzichtbar waren Türmer in Zeiten, als Räuberbanden Stadt und Land bedrohten. Die Türmer hielten tagsüber und vor allem nachts auf einem hohen Turm der Stadt Ausschau und warnten die Einwohner durch lautes Rufen, Glockengeläut oder Hörnersignale vor drohenden Gefahren. Auch die gefürchteten Brände sollten Türmer so früh wie möglich entdecken.

Schattenrissschneider

Vor der Erfindung der Photographie war der Schattenriss, auch Silhouettenriss genannt, für viele Menschen eine preiswerte Alternative zum gemalten Porträt. En mode war der Schattenriss hauptsächlich vor der Französischen Revolution und später wieder in der Biedermeier-Zeit. Heute finden sich Schattenrissschneider manchmal als Attraktion auf Kleinkunst-Märkten.

Rohrpostbeamtin

Diesen Beruf übten in der zweiten Hälfte des 19. und den ersten zwei Dritteln des 20. Jahrhunderts hauptsächlich Frauen aus. Ihre Aufgabe war es, den Rohrpostverkehr zu überwachen. Die Rohrpost war in Großstädten wie Berlin eine Art Vorläufer des Internets. In teilweise mehrere hundert Kilometer langen Röhrennetzen wurden mittels Druckluft zylindrische Behälter mit Dokumenten und Schreiben verschickt.

Schriftsetzer

Schriftsetzer waren jahrhundertelang in der so papierverarbeitenden Industrie tätig. Anfangs aus Holzlettern wurden bis in die 1990er Jahre Bücher und andere Druckerzeugnisse mit Bleisatz-Druckvorlagen hergestellt. Das Ende kam mit dem Licht- und Fotosatz. Aufgrund der gestiegenen Anforderungen und der technischen Veränderungen ist Schriftsetzer seit 1998 kein Beruf mehr.

Haderlump

Die Älteren kennen diesen Beruf noch als Schimpfwort für einen faulen Nichtstuer. Vom Mittelalter bis Anfang des 20.Jahrhunderts zog er auf der Suche nach alter Kleidung von Stadt zu Stadt, die er dann auf Märkten weiterverkaufte. Im Grunde war der Haderlump eine Art Secondhand-Händler. Da auch er oft in Lumpen ging, war er gering angesehen.

Wagner

Dieser weitverbreitete Beruf wurde auch Stellmacher genannt. Die Wagner stellten Räder, aber auch Wagen und Kutschen her, und reparierten sie falls nötig. Mit dem Siegeszug der Eisenbahnen waren Stellmacher als Waggonbauer gefragt, und auch noch zu Beginn des Autozeitalters. Mit dem Beginn der Fließbandproduktion verschwand der Beruf. Nur den landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) der DDR gab es sie bis 1989.

Veröffentlicht unter Reportagen