Nicht immer zart: Familienbande in der Gastronomie

In kaum einer Branche in Berlin arbeiten Familien so häufig zusammen wie in der Gastronomie. Was sind die Rezepte, dass es dabei möglichst konfliktfrei zugeht? Vier Besuche.

Familie Sperling, Letzte Instanz Berlin, 2015 © FM Rohm

Familie Sperling, Letzte Instanz Berlin, 2015 © FM Rohm

„Morjen“ grüßt Seniorchef Rainer Sperling gut gelaunt und energiegeladen. Er setzt sich an den runden Tisch in Berlins ältestem Lokal, dem „Zur letzten Instanz“ in der Waisenstraße in der Nähe des Alexanderplatzes.
Seit sich Rainer Sperling etwas aus dem Tagesgeschäft zurückgezogen hat, kümmert er sich hauptsächlich um Behördengänge und die Lieferanten. „Wo bleibt André“, fragt der kahlköpfige Senior mit sonorer Stimme. Sein 38-jähriger Sohn ist der Küchenchef des bei Berlinern und Touristen gleichermaßen beliebten Restaurants und führt es mit seiner Schwester Anja bereits seit einigen Jahren. „Na, der wird gleich kommen“, sagt beschwichtigend Ehefrau Christa Sperling, die für die Buchhaltung zuständig ist und im Service mithilft. Und tatsächlich steht André kurz darauf am Tisch. Sein dichtes, schulterlanges Haar bändigt eine Basecap. „Parkplatz“, sagt er nur, und jeder weiß, das kann hier in der Nähe von Amts- und Landgericht dauern, bis man einen findet.
Als alle mit Kaffee versorgt sind, zieht der 38-jährige André die Tagesordnung aus einer alten Ledertasche. „Das ist unser Ritual“, erklärt Schwester Anja, die mit Mops Cookie erschienen ist. Die 33-Jährige trägt die blonden Haare modisch kurz. Auf ihrem Unterarm leuchtet ein großflächiges Tattoo.
Familie Sperling, Letzte Instanz Berlin, 2015 © FM Rohm

Familie Sperling, Letzte Instanz Berlin, 2015 © FM Rohm

Seit sechs Jahren ist Anja für Service und Buchungen zuständig. Nach ihrem Diplom als Modelistin/Stylistin stellte sie fest, „ich will doch lieber im Restaurant der Eltern arbeiten“ und schloss eine Hotelfachfrau-Ausbildung im Adlon an. „Ich habe mich sehr gefreut“, sagt ihre Mutter Christa mit, die in der Runde respektvoll „Chefin“ genannt wird. Ihren Angetrauten redet Christa Sperling nur mit Nachnamen an. „Na Sperling, dir wäre das egal gewesen, ob die Kinder hier mal arbeiten. Mir nicht.“ Rainer Sperling hätte „auch mit 65 verkauft“. Seine Frau aber hängt sehr am Lokal. „Das haben wir uns hart erarbeitet“, sagt sie. Zusammen mit ihrem Mann hatte sie die damalige HO-Gaststätte 1988 noch zu DDR-Zeiten übernommen. Ein Jahr später fiel die Mauer, und es galt die Herausforderungen der neuen Zeit anzunehmen und zu meistern. Das ist gelungen. Mittlerweile gehört das Lokal an dem ältesten erhaltenen Stück Berliner Stadtmauer der Familie. „Das ist schon was besonderes, und deshalb ist es schön, dass es in der Familie bleibt.“ Sie freut sich, „dass sich die Geschwister so gut verstehen“. Hat der Wunsch der Mutter eine Rolle gespielt, die Arbeit im Restaurant zu suchen? „Nein“, sagt André, „ich wollte immer Koch werden Die Eltern waren sogar anfangs dagegen.“
Alle zwei bis drei Tage treffen sich die vier Sperlings zum geschäftlichen Vormittagspalaver. „Zuerst wird abgesprochen, was in den nächsten Tagen anliegt. Wir haben ja viele Gruppen hier, da muss alles passen. Ob Menü, Tagesgericht oder a-la-carte.“ In dem Lokal in der Nähe von Amts- und Landgericht heißen die Speisen entsprechend: die „Zeugenaussage“ ist Eisbein mit Rieslingkraut und Erbspüree, Kalbsleber Berliner Art mit Schalotten, süßen Äpfeln und Kartoffelstampf heißt „Kreuzverhör“.
Wenn klar ist, wie Service und Köche eingetaktet werden müssen und welche Sonderwünsche anstehen, geht es ans Eingemachte. „Dann besprechen wir die Vortage. Was ist gut gelaufen, wo gab es Probleme, wie können wir es besser machen“, erklärt André. Er hat während seiner Ausbildung bei Stationen im Hamburger Hotel Atlantik , der Schweiz und bei René Redzepi im Restaurant Noma in Kopenhagen, einem der besten Köche der Welt, erfahren, wie wichtig Kommunikation und Konflikbewältigung für das Funktionieren eines gastronomischen Betriebs sind. „Das mussten wir erst mal lernen“, sagt der Sohn. „Naja“, murmelt Vater Rainer. „War doch so, Sperling“, sagt seine Frau. „Stimmt schon“, gibt Sperling Senior dann doch zu, „eene gepflegte Streitkultur hilft.“ Alle lachen.
Familie Sperling, Letzte Instanz Berlin, 2015 © FM Rohm

Familie Sperling, Letzte Instanz Berlin, 2015 © FM Rohm

Kontrovers werde bei Großprojekten diskutiert, wie dem Umbau der Küche. Den wünschte sich natürlich André. Eine Maßnahme mit Kosten im sechsstelligen Bereich. „Also, wir haben zuerst hier in der kleinen Runde drüber geredet. Finanziell, technisch, organisatorisch muss das alles abgestimmt werden“, sagt Rainer. Man merkt, er fühlt sich gerne als der Häuptling. Tochter und Sohn werfen sich kurz einen Blick zu.

Gibt es nicht manchmal Probleme? Klar, darüber redet man nicht so gerne, schon gar nicht, wenn jemand fremdes dabei ist. „Naja,“ sagt die Senior-Chefin nach kurzer Pause, „manchmal komme ich den Kunden bei einer Buchung zu sehr entgegen, beispielsweise bei der Speisenfolge. Dann dreht André schon mal am Rad und sagt „Muttern, so geht das nicht“. Ich bin da oft zu nachgiebig“, erzählt Christa Sperling und seufzt. André nickt. „Ist ja nix gegen dich. Aber letztlich geht es in erster Linie darum, dass die Kunden nicht enttäuscht werden, und wir keinen Stress in der Küche haben“. Die nächste Runde Kaffee wird ausgeschenkt.

 „Diskutieren, wenn mal was nicht rund läuft, ist ganz wichtig“, ergänzt Anja Sperling. Was es bedeuten kann, wenn sich Familien streiten, zeigt das traurige Schicksal der berühmtesten Imbiss-Familie Berlins, Familie Ziervogel von „Konnopke’s“ an der Schönhauser Straße. Mutter und Sohn haben sich vor Jahren so zerstritten, dass mehrfach Anwälte tätig wurden. 2012 eröffnete der Sohn 2012 schließlich seine eigene Currywurst-Verkaufsstelle. Ehepaar Sperling kennt viele Gastronomenpaare, deren Ehen in die Brüche gingen.
„Deshalb lautet bei uns die Grundregel immer: Privates und Geschäftliches muss strikt getrennt werden“, sagt der Seniorchef. „Da hat Sperling ausnahmsweise mal Recht. Es kann ja nicht sein, dass durch den Betrieb die Familie zerstört wird“, ergänzt seine Frau. Und wie steht es mit Partnern der Geschwister? Können die im Betrieb eine Rolle spielen? „Da rate ich ganz stark von ab“, wird Rainer Sperling resolut. Sein Sohn ergänzt, dass er „damit keine guten Erfahrung gemacht habe“ und so etwas nie mehr in Erwägung ziehen würde Er stellt auch keine Freunde als Arbeitskräfte ein. Damit hole man sich leicht Ärger und Stress ins Haus. „Unser Team passt, und derzeit funktioniert alles sehr gut“, meint er.
So gut, dass sich Sperlings seit Januar den Luxus leisten, Sonntag geschlossen zu haben. „Das ist ungemein familienfreundlich“, sagt Anja Sperling. Endlich käme sie auch mal aus dem Hamsterrad raus, und, was für alle immens wichtig ist, „man hat auch wieder Zeit für Freunde und andere Dinge, die nicht mit der Arbeit und der Familie zu tun haben.“
Von solchen Arbeitszeiten können Funda, Ferdag, Dilek und Gülcan Alkan

Ferdag, Funda, Gülcan und Dilek Alkan, Café Bäckerei, Berlin © FM Rohm

Ferdag, Funda, Gülcan und Dilek Alkan, Café Bäckerei, Berlin © FM Rohm

nur träumen. Sieben Tage die Woche arbeiten Mutter, Tochter und zwei Nichten in dem kleinen Lokal „Café Bäckerei“ an der Kurfürstenstraße gegenüber vom Olof-Palme-Platz in Schöneberg. Ferdag, die Mutter von Funda, ist unter der Woche meistens mehr als zwölf Stunden vor Ort. „Muss ja“, sagt die 43-Jährige. Die kleine Frau mit den freundlichen Augen kommt um fünf Uhr morgens und geht gegen 18 Uhr. Sie weiß noch auf den Tag genau, wann das Lokal eröffnete. „Am 18. Juli 2010“ sagt sie stolz. Es war ein großes Wagnis, der erste gastronomische Versuch der Familie, die Ende der Siebzigerjahre aus der Osttürkei nach Deutschland kam. Viele, selbst die Vermieter, hatten Zweifel am Erfolg des kleinen Cafés mit schlichter Einrichtung und einer Galerie mit Schwarz-Weißfotos von Berlin. Inzwischen haben sich die hohe Qualität und das gute Preis-Leistungs-Verhältnis herumgesprochen. Unter der Woche kommen zahlreiche Mitarbeiter der umliegenden Büros und der Zentrale der Berliner Volksbank, um eine preiswerte, große Portion Linsen- oder Kartoffelsalat, Nudelsalat, gebackene Auberginen, gefüllte Paprika oder grünen Salat hier zu essen oder mitzunehmen. Daneben sind üppig belegte Brötchen im Angebot, auch Backwaren und Kaffee. Die meisten Gäste schätzen den freundlichen, fast fürsorglichen Service, den man heute leider nicht mehr oft erlebt.
Ferdags 23-jährige Tochter Funda hilft seit 2012 mit. Nachdem die schlanke junge Frau ihre Ausbildung als Diätassistentin beendet hatte, merkte sie, dass ihre Mutter die Arbeit mit ihren Nichten nicht schaffte. „Ich wollte zuerst nur aushelfen. Dann ist es ein regulärer Job geworden“, sagt Funda. Ob sie denn nicht lieber als Diätassistentin gearbeitet hätte? Funda erzählt, dass sie direkt nach der Ausbildung ein tolles Angebot erhalten hatte. Dann senkt sie den Blick und sagt leise „das ging aber nicht. Ich konnte die Familie nicht im Stich lassen.“ Sie arbeitet mit ihrer Mutter die Frühschicht, von halb acht bis gegen 15 Uhr, Samstag und Sonntag steht sie fast zehn Stunden im Laden. Zeit für Freizeit, für Unternehmungen mit Freundinnen und Freunden bleibt da nicht. „Wir haben genau drei Tage im Jahr zu. Weihnachten und am 1. Mai“, erzählt Funda. Sie wohnt noch bei ihren Eltern. Ist das nicht schwierig, zusammen arbeiten und auch noch zusammen wohnen? „Eigentlich sehen wir uns zuhause kaum.“ Gemeinsames Essen oder gemeinsame Unternehmungen fallen flach. Zum Glück gibt es Facebook, so kann sie mit ihrem Freundeskreis wenigsten halbwegs Kontakt halten.
Ferdag, Funda, Gülcan und Dilek Alkan, Café Bäckerei, Berlin © FM Rohm

Ferdag, Funda, Gülcan und Dilek Alkan, Café Bäckerei, Berlin © FM Rohm

Zur Mittelschicht kommt ihre Cousine Dilek, die um 20 Uhr das Café schließt. Die zweite Cousine ist Gülcan. Als Alleinerziehende mit zwei Kindern ist sie froh, dass sie nur wochentags im Café arbeiten kann. „Nirgends sonst würde ich das mit den Kindern hinbekommen. Meine Tante und meine Cousine nehmen viel Rücksicht auf meine Situation“, sagt sie dankbar. Im Gegensatz zu den anderen drei hat sie am Wochenende frei. „Es sei denn, es ist Not an der Frau, dann muss Gülcan ausnahmweise auch ran“, sagt Ferdag Alkan.
Die Mutter hat im Café ganz klar das Kommando. „Wenn ich etwas falsch mache, dann sagt sie es mir so, als wäre sie meine Chefin, nicht meine Mutter“, erzählt Tochter Funda. Sie glaubt, das ist der Grund, weshalb es in dem Frauenteam so gut läuft. „Oft habe ich gar nicht das Gefühl, mit der Familie zusammen zu arbeiten“. Besonders wenn das Mittagsgeschäft beginnt, und bis zu zehn Kunden in der Schlange stehen und hoffen, möglichst schnell ihr Essen zu bekommen. „Da gibt es nur ganz kurze Ansagen untereinander, meistens auf Türkisch“. Funda ist überzeugt, dass diese Trennung richtig ist. „Man muss professionell sein. Es nützt ja nichts, wenn man eine Kritik nicht äußert, weil man denkt, das ist meine Cousine oder meine Tochter. Dann macht man ja denselben Fehler mehrmals hintereinander“. Wenn es hinter der Theke nicht geht, steht für ein Krisengespräch die kleine Küche zur Verfügung. „Das ist dann ganz klar eine Arbeitsbesprechung“. Die falle in der Regel kurz aus, denn fast immer sind Kunden im Laden.
Wie lange hält man so eine angespannte Arbeitssituation aus? Mutter Ferdag wünscht sich, irgendwann Personal zu finden, dem sie vertrauen kann. „Leider waren unsere Erfahrungen nicht entsprechend“, sagt sie resigniert. „In so einem kleinen Team muss großes Vertrauen gewährleistet sein“, ergänzt sie. Verständlicherweise will niemand einen Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin an die Kasse lassen, auf den man sich nicht hundertprozentig verlassen kann. Über Geld wird nur intern geredet. Das geht niemand Außenstehendes etwas an. Wie lange wird Tochter Funda noch mitarbeiten? „Ich hatte schon wieder Jobangebote in meinem gelernten Beruf. Aber ich werde erst gehen, wenn Mama sagt, sie braucht mich nicht mehr“.

Tran Van Hai und Bruder Tran Quoc Viet, Kabuki, Berlin, 2015 © FM Rohm

Tran Van Hai und Bruder Tran Quoc Viet, Kabuki, Berlin, 2015 © FM Rohm

Der Vietnamese Tran Van Hai ist in Berlin unter dem Namen Mr Hai bekannt und betreibt drei Lokale in Wilmersdorf, Charlottenburg und Steglitz. Der als DDR-Kontraktarbeiter nach der Wende in die Gastronomie quer eingestiegene Sushi-Koch wollte anfangs auf keinen Fall seine Familie im eigenen Betrieb beschäftigen. „Wir Vietnamesen sind sehr stolz“, erklärt er, „und es fällt uns sehr schwer, Fehler zuzugeben. Besonders in der Familie.“ Deshalb ist es ihm lieber, zwar Landsleute anzustellen, aber eben keine Familienmitglieder. Als aber sein zehn Jahre jüngerer Bruder aus Saigon fortwollte, „habe ich in den sauren Apfel gebissen“, sagt der 50-jährige Hai und lacht laut, als er diese Redewendung seinem Bruder Tran Quoc Viet übersetzt. Auch der lacht.
Viet Tran kann nach über zehn Jahren in Berlin noch nicht so gut Deutsch, dass er sich intensiv an einem Gespräch beteiligen könnte. Trotzdem steht er täglich mehrere Stunden im Inneren der Sushi-Bar des „Shabuki“ am Olivaer Platz und fabriziert umringt von dutzenden Gästen faszinierende Rohfischklopse wie die berühmte Mr-Hai-Rolle oder Thunfisch-Tartar auf Avocado. „Für ihn waren die ersten Jahre sehr schwer“, übersetzt Mr Hai. Sein Bruder musste unter Volllast einen neuen Beruf lernen. Das bedeutete mittags und abends hunderte Sushi machen, und in der Zeit dazwischen mit seinem Bruder üben, üben und üben. „Wir hatten aber nur einmal richtig Streit“, sagt Viet. Dabei sei es darum gegangen, dass Viet meinte, am Wareneinsatz könne man doch einiges einsparen. „Er hatte meine Philosophie noch nicht drauf“, erklärt Hai. Der Streit sei aber schnell beendet worden. „Der Vorteil unserer Kultur ist, dass in Vietnam der Ältere immer recht hat“, sagt er und lacht sich fast kaputt. Auch sein Bruder lacht und macht eine Handbewegung, die ausdrücken soll, „lass ihn nur reden“.
Tran Van Hai und Bruder Tran Quoc Viet, Kabuki, Berlin, 2015 © FM Rohm

Tran Van Hai und Bruder Tran Quoc Viet, Kabuki, Berlin, 2015 © FM Rohm

Vor einem halben Jahr war Viet sehr froh, dass sein Bruder neben im stand. Bei der Vorbereitung hatte er sich mit dem rasierklingenscharfen Sushimesser mehrere Sehnen der linken Hand durchtrennt. „Ich bin sofort mit ihm ins Gertrauden-Krankenhaus gerast. Zum Glück konnten sie die Sehnen wieder annähen“, erzählt Tran Van Hai. Was den beiden Brüdern am meisten Spaß macht? „Wenn der Laden brennt und wir zusammen in der Sushi-Bar arbeiten. Dann verstehen wir uns wortlos. Und nach Feierabend, wenn wir eine Shisha rauchen“, sagen beide.

„Le fai una Sedani di ragù, Franco“ ruft Isa Lanza quer durch den Laden, „mach ihm eine Portion Sedani-Nudeln mit Rinderragout“. Sohn Franco schaufelt eine mächtige Portion Nudeln mit Fleischsoße auf einen Teller und schiebt ihn in die Mikrowelle. Sein Zwillingsbruder Vincenzo bedient derweil an der Vitrine einen Kunden, der vom Oktopussalat, Dicken Bohnen mit Thunfisch und Rote-Bete-Gemüse mitnehmen will. 

Franco, Isa, Salvatore und Vincenzo Lanza, Non Solo VIni, Berlin © FM Rohm

Franco, Isa, Salvatore und Vincenzo Lanza, Non Solo VIni, Berlin © FM Rohm

Im „Non Solo Vini“ an der Wilmersdorfer Güntzel-/Ecke Uhlandstraße geht es mittags und abends recht trubelig zu. Die Gäste werden schnell geduzt, aus den Lautsprechern dröhnt manchmal einen Tick zu laut Italo-Pop, Vincenzo singt Refrains von alten Schlagern und pausenlos wird geplaudert und gescherzt.

„Am Anfang war mir das gar nichts, als die Jungs hier anfingen“ erzählt Isa, die mit ihrer umgebundenen Schürze und den hochgesteckten Haaren aussieht wie eine Bilderbuch-Mamma. Beide Söhne haben erst ihr Abitur gemacht. „Ich wollte, dass sie studieren“, sagt Isa. Aber das wollten die Jungs nicht. „Wir hatten Lust auf Gastronomie“, sagt Franco. Gab es keine Zweifel, mit den Eltern so eng zusammen zu sein? „Wir kannten ja ihre Macken“, scherzt Vincenzo, „und sie unsere“, ergänzt Franco. Schon als Kinder hatten sie im elterlichen Feinschmecker-Restaurant „Ars Vivendi“ an der Podbielskiallee mitgeholfen. Hinter der Vitrine hängt ein Foto, das sie als Knirpse beim Erbsenpalen zeigt. „Stellen Sie sich vor: Kinderarbeit“ frotzelt Franco. Im 2004 eröffneten Feinkostgeschäft haben die beiden 30-Jährigen anfangs nur bedient, abgeräumt, Teller gewaschen. „So lernt man das“, sagt Mama Isa streng. Mittlerweile geht ein Großteil der Antipasti wie die Zucchini-umwickelte Bresaola, die sizilianische Gemüse-Gaponata, eingelegte Artischocken und Möhren aber auch Mittagsgerichte wie die Sedani-Nudeln auf ihre Ideen zurück.

Franco, Isa, Salvatore und Vincenzo Lanza, Non Solo VIni, Berlin © FM Rohm

Franco, Isa, Salvatore und Vincenzo Lanza, Non Solo VIni, Berlin © FM Rohm

Wie funktioniert das Zusammenspiel zwischen Eltern und Söhnen? „Ganz einfach: Wie immer“, sagt Isa. „Man muss wissen, wann man mal den Mund hält, zuhören, und braucht viel amore“. Und wenn es mal kracht? „Dann kracht es eben. Das ist wie ein Gewitter. Danach ist die Luft besser“, erklärt Vater Salvatore, der auf dem Großmarkt Handel mit italienischen Lebensmitteln und Weinen betreibt und die Produkte auch im Lokal verkauft. Er hält es für ein kleines Wunder, dass die Familie so gut zusammenarbeitet. „Man kann es drehen und wenden wie man will: Man nimmt immer die Arbeit mit nach Hause, und nach Hause mit zur Arbeit.“
 

Cafe Bäckerei, Kurfürstenstraße 101-104, Tiergarten, Tel. 60 92 94 27, täglich  6-20 Uhr 

Non solo vini, Güntzelstraße 26, Wilmersdorf, Tel. 86 39 80 92, Mo-Fr 10-20, Sa 10-16 Uhr, www.nonsoloovini.de

Mr Hai Kabuki, Olivaer Platz 9, Wilmersdorf, Tel. 88 62 81 36, täglich 12-24 Uhr, www.mrhai.de

Zur letzten Instanz, Waisenstraße 14-16, Mitte, Tel. 242 55 28, Mo – Sa 12-24 Uhr, www.zurletzteninstanz.de

Ein Familienbetrieb ist eine kooperative Lernaufgabe

Bettina Hannover, Fachbereich Psychologie FU Berlin, 2015 © FM Rohm

Bettina Hannover, Fachbereich Psychologie FU Berlin, 2015 © FM Rohm

Bettina Hannover, Professorin am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie der Freien Universität Berlin ist überzeugt, dass nur klare Absprachen Konflikte verhindern

Was ist denn das Besondere an der Zusammenarbeit in der Familie?

Hannover: Die Familie ist eine Konstruktion, in der ein wechselseitiges Geben und Nehmen besteht, allerdings auf einer nicht-vertraglichen Basis. In einem offiziellen Arbeitsverhältnis ist das ganz anders. Da sind die meisten Dinge vertraglich geregelt. Sowohl was die Bezahlung als auch die dafür zu erbringende Arbeitsleitung angeht. Wenn man diese beiden Arten von menschlichen Beziehungen vermischt, ist besteht die Gefahr vielfältiger Konflikte.

Was sind denn die häufigsten Konflikte und Probleme?

Menschen, die etwas aufgebaut haben, vielleicht ein eigenes Geschäft, einen eigenen kleinen Familienbetrieb, sind stolz darauf. Dazu gesellt sich schnell die, oft unausgesprochene Vorstellung, die Kinder können ja froh und dankbar sein, im gemachten Nest zu sitzen. Die brauchen jetzt nur noch in die Fußstapfen der Eltern treten, dann sind sie gemachte Leute. Und das sehen die Kinder manchmal ganz anders. Sie grenzen sich ab, und verweigern quasi den Eltern die Anerkennung für die erbrachte Lebensleistung.

Kann es überhaupt ohne Konflikte gehen, wenn man in der Familie zusammenarbeitet?

Kaum. Es wird immer Momente geben, in denen sich das Verhältnis Eltern-Kind mit dem von Arbeitgeber-Arbeitnehmer vermischt. Besonders in Ausnahmefällen wie zum Beispiel Krankheit anderer Arbeitsnehmer, wenn „Not am Mann oder der Frau“ ist, wenn im Betrieb Stress ist. Dann erwarten Eltern, dass die Kinder „die Familie nicht im Stich lassen“ und auch an ihrem freien Tag einspringen, oder Überstunden machen. Früher war es ja viel normaler, dass Kinder in die Fußstapfen ihrer Eltern traten. Heute stellen wir fest, dass Kinder häufig ganz andere Pläne verfolgen als ihre Eltern für sie haben. Deshalb haben viele Familienbetriebe heute ein großes Problem. Sie finden keinen Nachfolger innerhalb der Familie – und beginnen zu spät außerhalb der Familie danach suchen.

Hat sich das Rollenbild in der modernen Familie geändert?

Allerdings. Eltern können ihre Kinder weniger als früher nach ihren Vorstellungen formen und beeinflussen. In der modernen deutschen Familie werden Verhalten und Werte heute viel eher ausgehandelt. Wir beobachten mittlerweile, dass Eltern und Kinder sich gegenseitig als Freunde betrachten, also als gleichberechtigte Partner.
Auch hier liegt ein Konfliktpotential: in einem offiziellen Arbeitsverhältnis stehen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ja in einem hierarchischen Verhältnis zueinander, und das ist eigentlich eine gute Struktur für einen reibungslosen Ablauf.

Gibt es bei der Familien-Betriebs-Thematik auch kulturelle Unterschiede?

Ja. Menschen beispielsweise aus der Türkei oder Italien sind in einer stärker kollektivistisch ausgeprägten Kultur aufgewachsen. Diese Kulturen sind darüber definiert, dass Menschen ihre Identität darüber suchen, welchen Gruppen sie angehören. Dabei spielt die eigene Familie eine bedeutende Rolle, aber beispielsweise auch die Zugehörigkeit zu einem Betrieb.
Im Gegensatz dazu gibt es die individualistische deutsche Kultur. Wir suchen unsere Identität viel eher darin zu fragen: Wo bin ich einzigartig, worin unterscheide ich mich von meinen Geschwistern und Eltern. Daraus können dann für einen Familienbetrieb mehr Probleme erwachsen als wenn alle Familienmitglieder sich über ihre Zugehörigkeit zur Familie, zum eigenen Betrieb definieren.

Welche Tipps haben Sie für Familien in dieser Situation?

Letztlich geht es darum, die Interessen auszutarieren. Elementar dabei ist die Kommunikation, und da sind zuerst die Eltern gefordert. Wenn sie ihre Fragen und Vorstellungen klar aussprechen können, wissen die Kinder auch, woran sie sind. Das heißt, es wird planbarer. Und natürlich ist es auch hilfreich, wenn die Kinder beispielsweise früh genug signalisieren, sie möchten eine andere Ausbildung machen, ihre eigenen Weg gehen. Dann haben die Eltern die Möglichkeit, sich früh genug Gedanken zu machen, um was sie sich kümmern müssen, damit der Betrieb weiterläuft.

Reicht diskutieren allein?

Nein. Die Familien müssen das explizit aushandeln. Es kann nicht sein, dass Eltern sozusagen stillschweigend erwarten, dass Kinder bestimmte Dinge tun, ohne dass dies klar geregelt ist. Denn das führt schnell zu einem Gefühl der Enttäuschung bei den Eltern, einem Gefühl, nicht zu genügen bei den Kindern und insgesamt zu negativen Gefühlen im Zusammensein. Es geht also darum, dass man deutlich macht: Dieses ist jetzt eine Arbeitsbeziehung, die wir miteinander haben. Das wollen wir klar trennen von unserer Eltern-Kind-Beziehung. Und dass man dann im zweiten Schritt sich wechselseitig klar macht, welche Bedürfnisse und Ziele die Beteiligten haben.

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