Als Mutter eines schwerstbehinderten Jungen hat Cornelia Stretz viel gekämpft und viel gewonnen
„Hallo Juval,“ sagt Cornelia Stretz und beugt sich zu ihrem Sohn. „Aufstehen! Bist du wach?“ Ein Ritual, das viele Mütter kennen, auch viele Väter. Doch bei Juval ist das Aufstehen völlig anders als bei den meisten Kindern. Wie hingeflossen liegt der 20-Jährige in seinem Bett. Seit seiner Geburt ist Juval behindert, nach einer massiven Verschlechterung seines Zustands vor fünf Jahren kann er sich gar nicht mehr bewegen. Hände und Füße sind stark verformt, auch seine Wirbelsäule, er wiegt nur noch 33 Kilo. Aus seinem oberen Brustkorb ragt die Kunststoffkanüle eines Tracheostoma, ein Tubus, über den Juval atmet. In der Nacht übernimmt eine Maschine die Beatmung, damit er Kraft für den Tag gewinnt. Auf den ersten Blick scheint Juval nicht zu reagieren. Beim genaueren Hinsehen erkennt man, dass er mit seinen Augen lebt. Und wie! Wenn er die Menschen kennt, die sich im zuwenden, sprühen sie geradezu vor Energie. Sind Unbekannte im Raum, sieht Juval weg.Bis er vollständig wach ist, dauert es bis zu einer Stunde. Liebevoll redet seine Mutter mit ihm, immer wieder fragt sie ihn, ob er denn auch wirklich wach ist, und ob er bereit ist, von der künstlichen Beatmung genommen zu werden. Eine Reaktion erhält sie über die Augen, und über die Atmung. Wenn sie das Gefühl hat, Juval ist soweit, kommt der schwierigste Moment des Tages. Dann nimmt sie den Schlauch der Beatmungsmaschine vom Tracheostoma. Für den Fall der Fälle lässt sie die Maschine noch angeschaltet. Von einem Moment auf den nächsten sinkt Javals Puls von 95 zu 115 auf 85 zu 100. Das Kontrollgerät piept. „Na komm schon. Atmen! Du kannst das“, sagt die Mutter. Sie streichelt ihren Jungen, immer wieder berührt sie den schmalen Brustkorb um seine Atmung zu spüren. Es dauert eine Viertelstunde, bis Juvals Puls und seine Atmung im normalen Bereich sind.
Dann macht Cornelia Stretz „das Frühstück“. Es ist eine hochkalorische Nahrung, die sie ihm über eine Magensonde verabreicht. Zum Schluss putzt sie ihm die Zähne. Juval seufzt zweimal kurz. „Bitte sehr, mein Süßer“, sagt seine Mutter. Es ist Montag, zehn Uhr. Es klingelt an der Tür zu Juvals Wohnung. „Hallo Juval, wie geht es?“. Es ist Hille, die Physiotherapeutin von Juval.
Juval ist ein besonderer Name. „Als er geboren wurde, las ich gerade den Roman „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“ von Gabriel García Márquez“, erklärt Cornelia Stretz. „Hauptperson des Romans ist Doktor Juvenal Urbino, ein bleicher, sanfter Mann. Und bleich und sanft war Juval auch nach der Geburt.“ So kam Juval zu seinem Namen. Nicht nur bleich und sanft war das Kind. Es kam im Sommer 1994 mit einer schweren Behinderung auf die Welt. Keiner der Ärzte wollte sich festlegen, um was für eine Behinderung es sich handelte. „Am Anfang konnte er sich noch bewegen, auch greifen, und eingeschränkt artikulieren“, erzählt Cornelia Stretz und betrachtet alte Fotos. Sie zeigen häufig einen lachenden Juval, oft beim Spielen mit seinem zwei Jahre älteren Bruder Ammon. Aber je älter Juval wurde, desto weniger konnte er sich bewegen.
Ammon wohnt nur zwei Häuser neben seinem Bruder im Moabiter Kiez und kümmert sich täglich um ihn. Seine Mutter lebt direkt nebenan, der Vater um die Ecke. „Das hat sich im Laufe der Jahre so ergeben. Ohne diese räumliche Nähe zu uns allen könnte Juval mit seiner massiven Behinderung nicht alleine leben“, erklärt seine Mutter. Als Juval 18 Jahre alt wurde, war Cornelia Stretz der Meinung, „der Junge muss seine eigene Wohnung haben.“ Trotz einer notwendigen Vollzeitbetreuung rund um die Uhr.
Im Rollstuhl zum Schlachtensee
Von Beginn an nahm sich Cornelia Stretz vor, den schwerbehinderten Jungen „so normal wie möglich“ aufzuziehen. Sehr hilfreich war dabei, dass sie Mitte der Neunzigerjahre mit den zwei Kindern eine Parterrewohnung bezogen hatte. An die schließt sich ein kleiner Garten an, dahinter gibt es einen großen Spielplatz. „Als Juval zwei war, habe ich ihn in den Sandkasten gelegt und dann haben die anderen Kinder mit ihm gespielt.“ Das ging auch schon mal ruppig zu. „Angst hatte ich keine. Es ist auch nie was passiert“, erinnert sie sich. Juval war gerne auf dem Spielplatz, er liebte es, wenn Trubel um ihn herum war. Ein fester Programmpunkt war der Besuch im Zoologischen Garten. Am besten gefiel ihm, wenn die Löwen brüllten. „Er ist ja im Sternzeichen auch Löwe, vielleicht hat das etwas mit seiner Begeisterung für die Raubkatzen zu tun“, sinniert Cornelia Stretz. Im Sommer bugsierte sie Juval im Rollstuhl an den Schlachtensee und trug ihn ins Wasser. Er liebte das Wasser, egal wie kalt es war. Darin war er beweglicher und kam, mit einer Schwimmweste, sogar fast alleine vorwärts.
Wie alle Kleinkinder musste er gefüttert werden, nur hörte dieser Zustand nie auf. Scharfes habe er gern gegessen, ein gut gewürztes Curry, gerne auch Fleisch, aber das gab es nur beim Vater. Cornelia Stretz ist Vegetarierin. Wie die meisten Kinder liebte er Spaghetti mit Tomatensoße, „Karotten hat er gehasst. Ein bisschen war er damals ein kleiner Gourmet“, erinnert sie sich lächelnd. Mit acht Jahren fand seine Mutter im Sozialpädagogischen Förderzentrum einen Schulplatz in der Helene-Haesler-Schule in der Nähe des Alexanderplatzes. „Das Leben war nicht einfach, aber es ging seinen Gang. Wir hatten uns mit Unterstützung von Einzelfallhelfern eingerichtet. Es gab Freiräume“, berichtet die gelernte Designerin und Goldschmiedin. Wenn Juval in der Schule war, arbeitete sie in ihrem Atelier als Goldschmiedin. Zudem engagierte sie sich regelmäßig in Ausbildungsprojekten. Die Familie hatte sich arrangiert. „Manchmal kam so etwas wie eine Unterhaltung zustand. Er hatte mehrere Arten zu Lachen. Und er konnte auch meckern, wenn ihm etwas nicht passte. Im Kino seufzte er an den richtigen Stellen, er bekam oft mehr mit als wir“, erinnert sie sich. In der U-Bahn suchte er sich manchmal besonders coole, männliche Jungs aus und dann machte er so lange Faxen, bis sie auf ihn aufmerksam wurden und ihn ansahen. „Dann machte er weiter, bis sie auch lächelten.“ Wenn sie in der Natur unterwegs waren, im Park oder im Wald, schien es, als hörte er mehr als andere. Juval lachte, und es dauerte eine Weile, bis die anderen merkten, er lacht über einen Specht, der an einem Baumstammt klopft.
Reanimation und Kältekoma
Als sie gerade von der Arbeit zuhause angekommen war, klingelte Cornelia Stretz’ Handy. Die Einzelfallhelferin von Juval war völlig aufgelöst am Apparat. Er sei vor der Arminius-Markthalle im Rollstuhl zusammengebrochen. „Als ich hinkam, stand schon der Krankenwagen da und sie reanimierten ihn“, erzählt die Mutter mit stockender Stimme. Fünf Minuten lag Juval ohne Herzschlag, ohne Atmung auf der Straße. „Mein Kind war tot gewesen, aber es lebte wieder.“ Juval hatte beim Trinken die Flüssigkeit aspiriert, sie war in seine Lunge gelangt und hatte zum Atemstillstand geführt. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass die Schweinegrippe sein Immunsystem so geschwächt hatte. In einem zweiten Krankenwagen fuhr die Mutter hinter ihrem Sohn ins Krankenhaus. „Die hatten Angst, ich kippe bei einer weiteren Reanimation um.“
Was danach folgte, war unvorstellbar, unerträglich für eine Mutter, auch für eine so starke wie Cornelia Stretz. Um Juvals Organe zu schonen und ihm überhaupt eine Chance für ein Weiterleben zu ermöglichen, wurde er in ein Kältekoma versetzt. Dabei wird der Körper auf 32,5 Grad heruntergekühlt. „Er lag ohne Decken, nackt, auf der Intensivstation. Künstlich beatmet und künstlich ernährt. Wir durften ihn nicht einmal anfassen, das hätte eine zu große Wärmezufuhr bedeutet“, erklärt Cornelia Stretz. Verzweifelt sei sie gewesen, leer. Doch Juval hatte mehr Kraft, als die meisten behandelnden Ärzte und die Familie vermutete. Trotz seiner Behinderung überlebte Juval.Der große Moment kam Mitte März, als Juval aus dem Koma zurückgeholt wurde. „Schon vorher hatten uns Ärzte zu verstehen gegeben, es wäre besser, ihn gehen zu lassen. Aber ich wusste: Juval wollte leben. Ich habe das gespürt.“ Wenn sie von dieser Situation erzählt, fällt es Cornelia Stretz schwer, weiterzusprechen. Woher nimmt sie die Kraft, in solchen Momenten weiterzumachen, zu kämpfen, nicht aufzugeben? „Ich weiß es nicht genau“, sagt sie und blickt auf ihre Hände und hinüber zu ihrem Sohn. Dann sagt sie „Ich glaube, Juval gibt mir die Kraft“.
Nachdem ihr Kind aus dem Kältekoma erwacht war, musste als nächstes eine 24-Stunden-Betreuung sichergestellt werden. „Mir ging es um Juvals Würde. Ich wollte nicht, dass er in ein Pflegeheim abgeschoben wird. Ich wollte, dass er in Würde mit uns leben kann,“ sagt Cornelia Stretz.
Als erstes organisierte sie einen Krankenhauswechsel in die Saana-Kliniken, in den Sonnenhof in Lichtenberg. „Zum ersten Mal trafen wir auf Ärzte und Schwestern, die Zeit hatten, uns halfen und uns zeigten, welche verschiedenen Angebote von Therapien und Unterstützung zur Verfügung stehen.“ Nach zweieinhalb Wochen kam Juval in die Reha, nach Brandenburg. So oft es ging, fuhr sie ihn mit einem alten VW-Bus besuchen. In dem Bully schlief sie manchmal auch. „Ich war ganz nah bei ihm.“ Und hatte häufig ein schlechtes Gewissen gegenüber ihrem älteren Sohn Ammon. „Da hat mir mein Ex-Lebenspartner sehr viel abgenommen“, sagt sie.
Neue Hoffnung
Nach der Reha schaltete sich das Jugendamt ein und verfügte die Unterbringung von Juval in ein Pflegeheim in Lankwitz. „Während dieser Zeit war ich am Rande des Zusammenbruchs“, berichtet Cornelia Stretz. Mehrmals innerhalb eines halben Jahres musste Juval mit dem der Feuerwehr in ein Krankenhaus gebracht werden. Immer wieder hatte er Flüssigkeit in der Lunge. Wieder sprachen Ärzte davon, ihn „gehen zu lassen“. Für Cornelia Stretz war das der Moment, in dem sie dachte „dann gehe ich auch.“ Nachdem sie sich besonnen hatte, machte sie etwas ganz anderes. Sie setzte sich zu ihrem Sohn ans Bett, und redete lange auf ihn ein. Sie schilderte ihm die Situation, umarmte ihr Kind und sah es dann. Dann war ihr klar: „Juval ist ein Löwe, ein Kämpfer. Der wollte weiterleben.“ Also suchte Cornelia Stretz mit dem Kindsvater, Juvals Bruder und ihrem neuen Partner nach einer Lösung. Die ergab sich eher zufällig. Nach einer Infektion mit einem Krankenhauskeim kam Juval erneut in die Saana-Klinik. Dort traf sie bei einem Besuch eine Mutter, die ihr davon erzählte, dass sie ihr ebenfalls schwerstbehindertes Kind mit Intensivpflege bei sich zuhause haben könnte. Cornelia Stretz schöpfte neuen Mut.
Als nächstes erstellte sie einen detaillierten Plan, wie diese Pflege auszusehen hätte. Die Angebote, Logopäden, Ergotherapeuten, Einzelfallhelfer, Nachtwachen, Unterstützung durch Praktikanten, erfuhr sie von der Mutter, die sie in der Klinik kennengelernt hatte. Sie machte sich auch sachkundig, wie teuer ein stationärer Aufenthalt ist und errechnete, dass die Intensivpflege zu Hause kostengünstiger war. Wer jemals mit Behörden, Ämtern, Kranken- und Pflegekasse zu tun hatte, kann sich vorstellen, was für eine Mammutaufgabe Cornelia Stretz zu bewältigen hatte. Gleichzeitig musste die Wohnung für eine Vollzeitpflege mit künstlicher Beatmung nachts umgebaut werden.
Aber mit Juval kamen auch die Helfer, Therapeuten und Betreuer in ihre Wohnung. Von Privatsphäre konnte keine Rede mehr sein. Ständig war sie umgeben von Menschen. Dann kam ihr Zusammenbruch. Von einen Tag auf den anderen war sie wie gelähmt. „Ich konnte mich kaum bewegen, musste mit einem Rollator wieder Laufenlernen.“ Keiner wusste, was Cornelia Stretz hatte. Nach einer Weile wurde ihr klar, „dass ich mit mir selber nicht gut umgegangen war.“ Ihr Leben bestand fast nur noch aus der Organisation der Pflege und Betreuung von Juval, und ihrer Arbeit. Freizeit, Musikhören, sich verabreden, das alles hatte nicht mehr ausreichend stattgefunden.
Auch deshalb wandte sie sich nach Juvals 18. Geburtstag an ihre Wohnungsgenossenschaft und fragte nach einer Wohnung für Juval. Die Mitarbeiter versprachen zu helfen. Dann geschah das kleine Wunder. Direkt nebenan wurde eine behindertengerechte Parterrewohnung frei. „Zum ersten Mal hatte Juval zwei Räume, nicht nur ein Zimmer mit Bett und Intensiv-Equipement.“ Doch es gab auch immer wieder gesundheitliche Rückschläge. Als Juvals eigene Atmung zu schwach wurde, legten ihm Ärzte den Tracheostoma-Tubus und begannen mit der künstlichen Beatmung nachts.
Täglich kümmert sie sich vier bis sechs Stunden um Juval, die anderen Zeiten übernehmen ihr Ex-Partner und ihr Sohn, ihr Partner die Partnerin von Juvals Vater. „Das ist natürlich nie starr“, erklärt Cornelia Stretz, „denn es gibt immer Unvorhergesehenes. Die Rufbereitschaft ist rund um die Uhr. Aber wir schaffend das.“ Fünf Tage die Woche kommen für fünf Stunden Einzelfallhelfer, und unternehmen etwas mit Juval: Einkaufen, Spazierengehen, sogar in die Disco geht es und auch wieder zu den Löwen in den Zoo. Zur Nacht kommt ebenfalls eine Pflegekraft. Den meisten gefällt es bei Juval. Dreien sogar so gut, dass sie Cornelia Stretz kurz vor dem Muttertag damit überrascht haben, mit Juval fünf Tage an die Ostsee zu fahren. „Mal sehen, ob du es schaffst, so lange loszulassen“, frotzelt ihr Ex-Partner.
Mit ihrer positiven Energie, ihrem Durchhaltewillen und auch den Möglichkeiten, die nur wenige Länder so bereitstellen wie Deutschland, ist es Cornelia Stretz gelungen, eine Einzelförderung in einem so schweren Fall zu erkämpfen. „Dadurch kann Juval wieder am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Für die Gewissheit, dass er seine Würde behalten hat, dafür hat es sich gelohnt zu kämpfen“, sagt die Mutter „und für sein Lächeln. Das macht alles wett.“
Am 4. Mai erhielt Cornelia Stretz die Auszeichnung des „Pflegebär“der „Woche der pflegenden Angehörigen“.
Man muss auch auf sich selbst aufpassen
Frank Schumann, Leiter der Fachstelle für pflegende Angehörige vom Diakonischen Werk Stadtmitte warnt davor, sich bei der Pflege zu verausgaben
Sie sind einer der Initiatoren der „Woche der pflegenden Angehörigen“, die am morgigen Sonntag mit einem interkulturellen Fest auf dem Tempelhofer Feld endet. Worum geht es?
Schumann: Der Kernsatz dieser zum dritten Mal stattfindenden Woche lautet „Es ist an der Zeit, sich bei der Gruppe der pflegenden Angehörigen zu bedanken“. Das organisieren wir als Fachstelle für pflegende Angehörige mit neun weiteren Partnern aus dem Berliner Pflegebereich. In dieser Woche gab es über 20 Veranstaltungen. Wir wünschen uns, dass diese gesellschaftlich bedeutende Aufgabe größere Anerkennung erfährt und mehr diskutiert wird.
Welche Aufgabe hat die Fachstelle für Pflegende Angehörige?
Wir sind deutschlandweit die einzige Stabsstelle in diesem wichtigen Bereich. Wir beraten nicht, sondern fungieren im Auftrag der Senatsverwaltung für Soziales als eine Art Beauftragter für pflegende Angehörige. Im Kontakt mit den Berliner Beratungsstellen und Angehörigen prüfen wir, ob die bestehenden Angebote ausreichend sind, ob sie angenommen werden, und falls nicht, wie wir das ändern können.
Das heißt konkret?
Konkret haben wir seit Bestehen der Fachstelle, seit Ende 2010, z.B Broschüren mit Angeboten für Berliner pflegende Angehörige erarbeitet, in denen sich zahlreiche Beratungsstellen und –Angebote finden. Derzeit arbeiten wir an einem Maßnahmenplan, z.B. einer allgemeinverbindlichen Checkliste für die nach Paragraph 37.3 des Pflegeversicherungsgesetzes obligatorische Beratung.
Jeder Angehörige, der ein Familienmitglied oder einen Freund pflegend betreuen will, muss diese Pflichtberatung absolvieren. Noch gibt es da ein sehr starkes „Beratungsgefälle“. Nach dem Beratungsgespräch bekommen Angehörige einen Stempel auf einem Papier und damit ist die Pflege automatisch gesichert. Aber nur juristisch. Hier wollen wir höhere Qualitätsstandards setzen.
Mit wem arbeiten Sie dabei zusammen?
Zuallererst wollen wir, zusammen mit Pflegestützpunkten, Kontaktstellen Pflegeengagement und Pflege in Not, Ärzte, besonders die Niedergelassenen, mit ins Boot holen, aber auch Apotheker und Pflegedienste. Ein weiterer Aspekt ist die Fortbildung. Mit all diesen Gruppen streben wir eine stärkere Vernetzung an. So können wir pflegenden Angehörigen hilfreiche Leitfäden an die Hand geben, die ihnen bei der Bewältigung ihrer Aufgabe helfen.
Wie stellt sich die Lage im Bereich Pflege in Berlin dar?
Zum einen wächst die Zahl der Pflegenden kontinuierlich. Bei der letzten Erhebung 2011 wurden in Berlin etwa 108 000 Pflegebedürftige gezählt. Rund 81 000 von Ihnen wurden von circa 170 000 Angehörigen gepflegt. Das heißt, meistens pflegen zwei und mehr Personen einen Pflegebedürftigen. In fünfzehn Jahren werden es etwa 160 000 Pflegebedürftige sein, und doppelt so viele Helfer. Das bedeutet, rund zehn Prozent der Bevölkerung wird 2030 Angehörige pflegen. Wobei sich Angehörige nicht nur auf Blutverwandte beschränkt, sondern dazu auch mehr und mehr Freunde und Nachbarn zählen.
Mit welchen Schwierigkeiten sehen sich pflegende Angehörige konfrontiert?
Das ist ein sehr komplexes Thema, das häufig nicht öffentlich reflektiert und diskutiert wird. Viele Angehörige sehen sich einfach in der Pflicht, zu pflegen. Da Pflegende außer dem meist kurzen Pflichtberatungsgespräch wenig Unterstützung in Anspruch nehmen, droht auf längere Sicht eine soziale Isolation der Pflegenden, ebenso die Gefahr der Erschöpfung, des „burn out“. Überspitzt gesagt, sind überforderte Helferinnen und Helfer die Pflegebedürftigen von morgen.
Wie kann man das verhindern?
Auf verschiedene Arten. Ganz wichtig ist, sich darüber zu informieren. Nicht den Kopf senken und denken „Ich muss ja“, nicht pflegen aus moralischer Verpflichtung und dann alles machen, bis man nicht mehr kann. Sondern verstehen, dass man eine wichtige, anerkannte Aufgabe leistet – und dabei auch an sich denkt. Das versuchen wir mit der Woche der pflegenden Angehörigen zu vermitteln. Pflegende sollten bestehende Hilfsangebot kennenlernen, auf ihre individuelle Situation übertragen und dann in Anspruch nehmen. Pflegende müssen auch auf sich selbst aufpassen, auch für sich selbst sorgen. Dazu haben sie jedes Recht.
Das heißt letztlich, einen Mix von Hilfsmaßnahmen organisieren, neben der eigenen Pflegearbeit auch ehrenamtliche Helfer in Anspruch nehmen. Und, wenn man die Möglichkeiten dazu hat, auch bezahlte Dienstleistungen in Anspruch nehmen.
Wie können sich Menschen mit Migrationshintergrund über diese Thematik informierten?
Bei diesen Menschen sind die Vorbehalte, sich Unterstützung von außen zu holen, in der Regel noch größer. Wir arbeiten an einem „Brückenbauer-Projekt“, um die Angebote, die es gibt, in diesen Gemeinschaften publik zu machen.
Weitere Informationen unter http://www.woche-der-pflegenden-angehoerigen.de