Die Vergänglichkeit verneigt sich in Form dottergelber Neonschrift auf splissigen, ehemals tannengrünen Buchstaben an der verwitterten Fassade an der Ecke Karl-Marx-Straße/Thomasstraße im Süden Neuköllns. Das A von Musik BADING hat sich aus der Verankerung gelöst und hängt von der Hauswand. Passanten schieben sich entlang des nicht endenden Verkehrs an Geschäften von Gesundheitsdienstleistern, Billigtextilien und Tiefpreismatratzen vorbei. Manch einen bringt der Blick in die vergitterten Schaufenster von Musik Bading ins Stolpern. Mit stumpfem Goldsamt ausgeschlagene Wände, verblasste Plakate, davor Gitarren, Perkussionsinstrumente, Vinylschallplatten aus den 1960er Jahren.
Drinnen im Laden empfängt der Geruch von Lötfett, Röhrenradios und altem Teppichboden. Hinter dem Tresen empfängt Brünhilde Schibille, Tochter des Firmengründers Erich Bading, die Kunden. Am 1. April 1919 öffnete die Musikalienhandlung Musik Bading zum ersten Mal die Türen. 97 Jahre später steht die hochbetagte Tochter des Firmengründers vor der Notenabteilung. In der sind hunderte Noten alphabetisch nach berühmten Komponisten sortiert. Chopin hat sogar zwei Fächer, einmal von A-N, das zweite von P-Z. „Guten Tag“, grüßt Liane Bading, Schwägerin von Brünhilde Schibille. Auf einem Stuhl vor dem Verkaufstresen sitzt die 71-jährige Ingrid Eckert und fächert sich Luft zu.Ingrid Eckert hat 47 Jahre bei Musik Bading in der Buchhaltung gearbeitet, bis vor acht Jahren Vollzeit, bis Ende 2015 alle zwei Wochen. Jetzt kommt sie einmal die Woche auf einen Plausch vorbei, oder zweimal. Ihr Mann ist vor einigen Jahren gestorben. Auch Dieter Götz arbeitet seit 47 Jahren bei Bading. Alle vier Herrschaften könnten teilweise schon lange in Rente sein. „Noch geht es, und zuhause fällt uns die Decke auf den Kopf“, erklärt Dieter Götz, mit 67 der Youngster des Quartetts. Ohne ihn gäbe es das Geschäft nicht mehr, er hält Musik Bading am Leben, denn er weiß noch, wo sich alles findet und ist mit dem heutigen Bestellwesen vertraut. Vier Tage die Woche, Montag bis Donnerstag hat die Musikalienhandlung geöffnet. Vor zwei Jahren wurde schon mal die Schließung verkündet, aber die Kunden hätten sie bekniet, zu bleiben. „Im Sommer machen wir zwei Monate zu, so geht das halt noch“, erklärt Liane Bading. Ihr verstorbener Mann Hans-Joachim war der Bruder von Brünhilde Schibille.
Mitte der 1950er Jahre hatte Liane Bading, damals noch Fräulein Wendt, als Fachverkäuferin bei Musik Bading gearbeitet. Dann verliebte sie sich in Hans-Joachim Bading, und ihr Chef in sie. Ihr Arbeitsbereich war die Schallplattenabteilung. „Kommse“, sagt die schmale Frau und geht langsam in den Nebenraum. Verblichene Werbeplakate von Peter Alexander, Drafi Deutscher, Catarina Valente und Gus Backus hängen an den Wänden. In verstaubten Ständern stecken Langspielplatten der letzten fünfzig Jahre, von Engelbert Humperdinck bis Herbert von Karajan. Wie viele Menschen hier wohl ihre erste Schallplatte gehört haben oder ihr erstes Instrument gekauft? Zehntausende. Der prominenteste Berliner hängt mit signiertem Plakat in der Schallplattenabteilung. „Frank Zander. Der hat bei uns seine erste Gitarre gekauft“, erzählt Liane Bading stolz. „Er kommt noch manchmal rein. Ein toller Mann, der ist so normal geblieben“, schwärmt sie.
Unter dem L-förmigen Tresen sieht man ein halbes Dutzend Dual-Plattenspieler, davor stecken Bakelit-Hörer. „Hier haben die Leute sich die Platten angehört“, erklärt sie und streicht zärtlich über das ausgeblichene Resopal des Tresens. Gegenüber befindet sich in der Wand ein kleines Fenster. Mehr als dreißig Jahre war hier die Theaterkasse des Hauses untergebracht. „Gibt’s alles nicht mehr“, konstatiert Dieter Götz ohne Wehmut. In den Regalen im Raum nebenan standen früher Dutzende Fernseher, Tonbandgeräte und Radios. „Mann, haben wir Farbfernseher verkauft zur Fußball-WM 1974“, erinnert sich Dieter Götz. Die letzten guten Verkaufszeiten liegen mehr als ein Vierteljahrhundert zurück. „Als die Mauer fiel, da kamen die Menschen aus Ost-Berlin und kauften uns den Laden leer. Da ging es noch mal richtig rund.“ Allerdings nur zwei, drei Jahre. Dann öffneten die Elektronikdiscounter, und seither geht es bergab. Bis heute nur bergab. Dieter Götz ist eine Art Sachwalter des einstmals größten Musikhauses im Südwesten Berlins.
29 Angestellte hatte das Musikhaus
„Könn Se sich nich vorstellen“, ist ein Satz, der ihm häufiger über die Lippen kommt. 29 Angestellte hatte das Musikhaus, als er 1967 als Auslieferungsbeifahrer anfing. „Sechs in der Werkstatt, vier Fahrer mit Beifahrer, fünf in der Buchhaltung, die Theaterkasse, und so weiter.“ Noch mehr Menschen arbeiteten vor dem II. Weltkrieg bei Musik Bading. Im Keller gab es ein Dutzend sogenannter Vorführräume. Kleine mit Samt ausgeschlagene Separees, in denen zuerst Grammophone, später die ersten Röhrenplattenspieler standen. Hier konnte die betuchte Kundschaft den neuesten Schelllackplatten der Deutschen Grammophon auf kleinen Sesseln lauschen. Dazu gab es Getränke und Kleinigkeiten zu essen.
Firmengründer Erich Bading war nicht nur ein großer Musikfreund, er war auch ein Freund bekannter und berühmter Musiker, Komponisten und Sängerinnen. In den Gängen zu den heute leeren Vorführräumen zeugen zahlreiche Fotowidmungen, etwa von Richard Tauber, Wilhelm Furtwängler, Giaccomo Puccini von Badings Freundschaften mit Musikern. Bis Anfang der 1950er Jahre betrieb er sogar eine eigene Konzertagentur.
„Oben hatten wir noch eine Klavier- und eine Orgelabteilung“, berichtet Dieter Götz, „da ist jetzt ein Türke mit Trödelladen drin.“ „Sehr nette Leute“, ergänzt Liane Bading. „Wenn das Haus sich nicht in Familienbesitz befände, wäre hier schon lange dicht“, sagt sie noch.
„Herr Götz“, schallt es von Brünhilde Schibille. Oben im Laden fragt ein junger Mann mit drei-Tage-Bart nach einer Panflöte. Dieter Götz zeigt ihm zwei Modelle. Eine in C-Dur, eine in D-Dur, 60 und 136 Euro. Der junge Mann „überlegt noch mal.“ Zielstrebiger ist eine Frau mit zehnjährigem Steppke, die eine Ukulele für 39 Euro kauft. „Natürlich haben wir dafür auch Noten“, sagte die Seniorchefin, die plötzlich wie ausgewechselt ist. Freundlich, zuvorkommend, mit Glanz in den Augen. Könnte an dem Steppke liegen, dem sie zweimal durchs Haar fährt.
Nächster Kunde ist ein Althippie, der nach Saiten und Kapodaster für seine Gitarre fragt. Drei verschiedene Ausführungen dieses Hilfsmittel, um die Schwingungslänge der Saiten zu verkürzen führt Dieter Götz vor. „Welches empfehlen Sie?“, fragt der Kunde. „Das für zehn Euro, das reicht.“ „Nehm ich.“
Musik-Bading, Karl-Marx-Straße 186, Rixdorf, Tel. 681 30 66, ab 12. September wieder Mo-Do 11-18 Uhr.