Vor drei Jahren flüchtete Guiseppe Marcone vor Schlägern aus dem U-Bahnhof Kaiserdamm. Auf der Straße wurde der 23-Jährige von einem Auto erfasst, er starb sofort. Seine Eltern versuchen das Unbegreifliche zu begreifen.
Am frühen Morgen des 17. September 2011 endete für Familie Marcone ihr erstes Leben. Es war ein Sonnabend, die Sonne schien, es würde ein warmer Spätsommertag werden. Um acht Uhr stand Raoul, der beste Freund ihres Sohnes mit steinerner Miene in Begleitung seines Vaters vor der Tür des kleinen Einfamilienhauses am Rande der Avus. Er war gekommen, um Vaja und Antonio Marcone das Furchtbarste zu sagen, was man Eltern sagen kann. Dass ihr Kind tot ist. Nicht mehr lebt. Nie mehr wieder mit ihnen zusammen sein wird. „Ich habe geschrieen, nur geschrieen“, sagt Vaja Marcone.Tausend Menschen, überwiegend junge Leute, Freunde und Freundinnen von Guiseppe, strömen an den Kaiserdamm. Sie legen Blumen nieder und entzünden Kerzen an der Stelle, an der ein Auto den flüchtenden Guiseppe erfasste und gegen eine Fußgängerampel schleuderte. „Guiseppe war sofort tot. Jede seiner drei Verletzungen war tödlich. Es hört sich vielleicht seltsam an, aber für mich war es tröstlich, dass er nicht leiden musste“, sagt seine Mutter.
Die untersetzte Mittfünfzigerin mit kurzen, braunen Haaren und freundlichen Augen legt die Hände auf den Tisch und beugt sich vor, wenn sie erzählt. So, als wolle sie sicher gehen, dass ihr Gegenüber versteht, was sie sagt. Sie klingt gefasst, wenn sie vom Unfassbaren spricht. Vaja Marcone braucht dieses darüber reden. Manchmal lächelt sie, wenn sie von ihrem mittleren Sohn spricht. Von Guiseppe, der im Wohnzimmer der Familie auf vielen Fotos zu sehen ist. Als kleiner Junge, mit dichtem, schwarzen Haar und ernstem Blick. Den legt er nicht ab, auch nicht, wenn er neben dem griechischstämmigen Großvater sitzt, oder bei der Einschulung seines jüngeren Bruders in die Kamera blickt. Auch nicht bei der Feier zum 50. Geburtstag seines Vaters Antonio.
Ein Sanddorn wächst aus einem hellblauen Kübel am Kaiserdamm. „Der erste Baum ist eingegangen. Dieser hier ist robust. Er hat schöne Blätter und Früchte, aber auch Stacheln. Ein Gärtner hatte davon gehört, dass der andere eingegangen war. Er schlug den Sanddorn vor. Und pflanzte um ihn herum zu unterschiedlichen Zeiten Blühendes“, erzählt Vaja Marcone. „Ein Engel kam, lächelte und kehrte um“, steht auf der Gedenktafel der Guiseppe-Marcone-Stiftung vor dem Pflanzenkübel. Und, dass an dieser Stelle Guiseppe Marcone durch gewalttätige Jugendliche in den Tod gehetzt wurde. Dass sein Schicksal den Menschen Mahnung sein möge, „einander mit Achtung und Respekt zu begegnen.“
Hätten die angetrunkenen Jugendlichen am 17. September 2011 nur einen Funken Achtung und Respekt in sich gehabt, würde Guiseppe heute noch leben. Beerdigt hat Familie Marcone ihren Sohn und Bruder auf dem Waldfriedhof in Zehlendorf. „Sieht gar nicht aus wie ein Friedhof, eher wie ein Park“, meint Antonio Marcone. Er und seine Frau haben Guiseppe nicht mehr sehen wollen, auf Anraten der Gerichtsmediziner. Erst nach drei Wochen wurde der Leichnam freigegeben.
Den Schmerz teilen
Anfangs fuhr das Paar jeden Tag zum Grab, heute sind es ein bis zwei Besuche in der Woche. „Ich wollte es verstehen“, sagt Antonio Marcone, „aber ich konnte nicht.“ Auch die Brüder von Guiseppe konnten das Geschehene lange nicht verstehen. Beide Jungen wurden auf Anraten der Polizei einige Wochen lang psychologisch betreut. Die Eltern selbst wollten keine professionelle Hilfe. „Unsere Stütze war, zu trauern, den Schmerz anzunehmen und auszuhalten, ihn mit Freunden zu teilen“, sagt Vaja Marcone.
Sie ist die Tochter eines Griechen, der nach 1949 als Partisan gegen die Regierung rebellierte und in der Folge nach Bulgarien fliehen musste. Dort lernte er seine Frau kennen und zog mit ihr in die DDR, nach Dresden. Von dort siedelte die Familie Ende der Siebziger Jahre nach West-Berlin über.
Mitte der Achtzigerjahre lernte die lebenslustige Vaja ihren Mann kennen. Der gebürtige Neapolitaner war als 20-Jähriger 1976 nach West-Berlin gekommen, und hatte wie viele seiner Landsleute in der Gastronomie gearbeitet. Allerdings mochte er die Pizzerien im Zentrum der geteilten Stadt nicht. Er suchte und fand Arbeit in den gehobenen Ristorantes in Grunewald und Dahlem, im Gattopardo, La Cacina und Castelsardo. 1983 wurde der älteste Sohn geboren, Velin, benannt nach dem bulgarischen Großvater. Fünf Jahre später im Juni kam Guiseppe zur Welt, benannt nach der italienischen Großmutter, 1992 dann der jüngste Bruder Savier.
1994 bis 2000 betrieb Antonio Marcone mit einem Partner das La Forchetta, ein beliebter Edelitaliener am Halensee. Seine Frau half immer mit, im Service, an der Bar. Auch als er später mit anderem Partner das I Portici am Walter-Benjamin-Platz in Charlottenburg eröffnete. Auch, als dort die Miete zu hoch wurde und man in Schmargendorf ein kleines Restaurant gegenüber dem Rathaus eröffnete. Kurze Zeit nach dem Tod des Sohnes hörte sie dort auf. „Guiseppe hatte bei uns eine Lehre als Koch gemacht. Es ging mir einfach zu nahe“, erzählt sie. Ihre Stimme ist fest und klar. Seither arbeitet sie in einem Café in der Nähe des Fasanenplatzes.
Guiseppe lebte für seine Freunde
„Er war ein guter Koch. Besonders bei den Pastagerichten“, sagt Antonio Marcone mit dünner Stimme. „Aber auch bei den Hauptgerichten. Er kochte gerne, schon als Kind. Er war vielleicht neun Jahre alt, da hat er sich alleine Spiegeleier gemacht.“ Später hätten ihn die Fernsehsendungen von Jamie Oliver interessiert und er habe regelmäßig für seine Freunde gekocht. „Die waren alle begeistert. Guiseppe hatte viele Freunde. Manchmal dachten wir, zu viele“, meint Antonio Marcone. Der Junge war voller Energie. Trieb Sport. Jobbte noch nach der Ausbildung als „Liftboy“ im Club auf dem Dach des Hotels Park Inn am Alexanderplatz. Da musste jemand mit den Gästen im Außenlift bis aufs Dach fahren, damit die Leute nicht unterwegs im Hotel ausstiegen. Oft erzählte er den Eltern, er habe eine Einladung, nach London, nach Sofia, nach New York. Von Leuten, die er während der zwei Minuten Liftfahrt so gut unterhalten hatte, dass sie ihm solche Angebot machten.
„Am auffälligsten an Guiseppe war, wie fürsorglich er sich um andere kümmerte. Ich erinnere mich, wie er sich bereits als Sechsjähriger im La Forchetta um die kleinen Kinder kümmerte. Er war wie eine Glucke. Die Gäste konnten es kaum glauben“, berichtet Vaja Marcone. Später sei er ein ganz normaler, aufgeweckter, „aber, wie so viele in seinem Alter, fauler Junge“ gewesen. Was ihn am meisten interessierte war Geschichte, von den Römern bis heute. „Ihn interessierten Strategien“, erinnert sich Antonio Marcone, „besonders der II. Weltkrieg“. In das Kondolenzbuch schrieb die Mutter einer Mitschülerin, er habe den Geschichtsunterricht auf der Waldoberschule in Westend mitgestaltet.Schwer zu verstehen war für seine Eltern die Tatsache, dass er bereits nach Abschluss der Mittleren Reife davon sprach, zur Bundeswehr zu gehen. „Wir sind alle eher anti-militaristisch eingestellt. Sein älterer Bruder hat Zivildienst gemacht. Aber Guiseppe wollte zur Armee.“ Seine Mutter hoffte, dass die Ausbildung als Koch ihn auf andere Gedanken bringen würde. Sie setzte darauf, dass sein Schielen und der schlecht verheilte Bruch eines Zehs zur Ausmusterung führen würden. Doch er wurde angenommen und sollte Anfang Oktober 2011 seine Ausbildung bei einer Gebirgsjägereinheit in Bayern beginnen.
Am 15. September 2011 war sein letzter Arbeitstag im Restaurant seines Vaters. „Er wollte sich zwei Wochen lang von seinen Freunden verabschieden. Ein bisschen Party machen“. Mit seinen vielen Freunden. „Es gab die Grunewald-Kids aus der Schule. Es gab Freunde vom Sport. Und es gab eine Clique junger Schüler vom Jüdischen Gymnasium“, erzählt seine Mutter. Über seinen besten Freund Raoul kam Guiseppe in Kontakt zur israelischen Gemeinde. Er engagiert sich, als einziger nichtjüdischer Jugendlicher, im Misgaret. Das ist ein freiwilliger Sicherheitsdienst, der jüdische Institutionen schützt. Wenig später besuchte er zusammen mit Freunden Israel. In den letzten zwei Jahren beschäftigte sich Guiseppe mit Street Art und war häufig in den Kletterhallen der Stadt unterwegs.
"Die waren auf Stunk aus"
„Viele seiner Freunde haben uns nach dem Tod von Guiseppe angerufen und besucht. Uns war gar nicht klar, dass er so beliebt war – und was er alles gemacht hat“, sagen beide Eltern. „Nach seinem Tod haben wir häufig darüber geredet. Heute denken wir, er hat mit unheimlichem Tempo gelebt. Schlafen war für ihn Zeitverschwendung. Manchmal kommt es mir vor, als lebte er mit dem Wissen, dass er nicht viel Zeit hat“, sagt seine Mutter. „Er hat das gewusst.“ Einmal habe er zu ihr gesagt, „Mama, ich werde früh sterben“.
Wenn ein Freund oder eine Freundin Probleme hatte, half Guiseppe. „Das stand für ihn an erster Stelle“, ergänzt Antonio Marcone. „Deshalb kam er oft zu spät. Zur Arbeit, zu Verabredungen. Er sagte, „Ich musste einem Freund helfen“. Egal bei was. Für seine Freunde hat er alles liegen und stehen gelassen.“ Er erzählt, wie Guiseppe einen Freund und dessen Vater, die monatelang nicht miteinander redeten, an einen Tisch brachte bis sie sich wieder vertrugen. „Freundschaft, Kameradschaft, das waren ihm die wichtigsten Dinge im Leben.“
Beim Prozess im März 2012 sind Marcones als Nebenkläger aufgetreten. „Mein älterster Sohn und ich. Wir wollten bewusst auch den Bruder mit einbeziehen. Wir wollten den Tätern zeigen, dass auch die Geschwister von ihrer Tat betroffen sind,“ sagt Vaja Marcone. Schon kurz nach dem 17. September war den Eltern klar, dass die beiden Angeklagten mit einer milden Strafe davonkommen würden.
Die Täter waren zu dritt. Einer von ihnen soll bereits wegen Körperverletzung und Raub vorbestraft gewesen sein. „Der hat sich passiv verhalten. Aber auch nicht die anderen zurück gehalten“, so Vaja Marcone. Die etwa gleichaltrigen Täter, Ali. T. und Baris B., waren nachts unterwegs gewesen, „feiern“. Sie gaben an, sehr viel getrunken zu haben, jeder mindesten eine Flasche Wodka. „Damit ist man schon so gut wie schuldunfähig“, sagt Vaja Marcone. Die Überwachungsvideos der BVG zeigten nach Schilderung von Frau Marcone, wie die drei auf dem U-Bahnsteig mehrere Züge passieren ließen. Sie warteten. „Die waren auf Stunk aus. Sie wollten jemand „klatschen“.
Guiseppe hatte mit Freunden den Abend bei Computerspielen verbracht. „Seltsamerweise war es in Gesprächen dabei auch darum gegangen, wie man auf Aggressionen in der Öffentlichkeit reagiert. Freunde aus Berlin, die in Österreich studierten, hatten darüber berichtet, dass sie mehrfach in Straßenbahnen und Bussen angepöbelt wurden. Sie erzählten uns, dass besonders Guiseppe gesagt habe man müsse „aus der Situation rausgehen. Einfach weggehen“’.
Als er um kurz nach halb fünf mit seinem Freund Raoul auf den Bahnsteig kommt, werden sie sofort angepöbelt. Ali T. und Baris B. verlangen Zigaretten. Raoul, ein eher schmächtiger und schmaler junger Mann, erwidert, nur noch zwei zu haben. Die brauche er für sich. Das bringt Ali T. so in Rage, dass er aggressiv einen „Einzelkampf“ fordert. Guiseppe und Raoul werden gespürt haben, dass die Sache aus dem Ruder läuft. Sie versuchen, „die Situation zu verlassen“. Sie gehen Richtung Ausgang, werfen das Zigarettenpäckchen zu den Angreifern. Unvermittelt schlägt Baris B, der bislang nicht aggressiv aufgetreten war, Guiseppe. Kurz danach schlägt auch Ali. T. zu. Raoul verteidigt seinen Freund, trifft Ali T. am Auge. Beide wissen, nun müssen sie rennen. Raoul stürzt die U-Bahnhoftreppen hoch. Oben auf der Straße läuft er Richtung Theodor-Heuss-Platz. Guiseppe wird von Ali. T. verfolgt und will über den um diese Zeit kaum befahrenen Kaiserdamm sprinten. Er ist ein Läufer, joggt fast jeden Tag, oft sogar von der Arbeit im Lokal die rund fünf Kilometer nach Hause. Er weiß, mit seinem Antritt wird er den Angreifer rasch hinter sich lassen.
Raoul ruft bereits per Handy die Polizei, als er einen lauten Knall hört. Direkt danach einen zweiten. Guiseppe muss ihn übersehen haben, den roten Sharan. Dessen Fahrer kann weder bremsen noch ausweichen und erfasst Guiseppe. Raoul rennt zur Unfallstelle, versucht mithilfe des Polizisten am Notruf lebensrettende Maßnahmen einzuleiten. Vergeblich. Als kurz danach der Rettungswagen eintrifft, gibt es für Guiseppe keine Hilfe mehr. Die drei Angreifer flüchten mit einem Taxi, ohne sich um Guiseppe zu kümmern. Später am Sonnabend stellen sie sich der Polizei. Dafür erhalten sie beim Strafverfahren ein halbes Jahr später mildernde Umstände. „Die werden gewusst haben, dass sie auf dem BVG-Video zu sehen waren“, vermutet Vaja Marcone. Die Familien der Angeklagten lassen verlauten, dass ihre Söhne einen fürchterlichen Fehler begangen haben. Sie nehmen einen renommierten Strafverteidiger. Der verliest im Prozess Geständnisse der Angeklagten und sagt, sein Mandant Ali T. empfinde persönlich eine größere Schuld, als er sie juristisch habe.
Richter Ralph Ehestädt geht anders als die Staatsanwaltschaft nicht davon aus, dass die Täter Guiseppe „gehetzt“ haben. Das hätte strafrechtlich eine andere Bedeutung gehabt. Stattdessen sei Guiseppe verfolgt worden und als Folge einer Verkettung unglücklicher Umstände umgekommen. Ali T. erhält zwei Jahre auf Bewährung und 600 Stunden gemeinnütziger Arbeit. Baris B. vier Monate auf Bewährung und 120 gemeinnützige Arbeit.
Bewährungsstrafe für den Haupttäter
„Uns war klar, dass das so ausgehen würde“, sagt Antonio, „aber es war uns wichtig, auch als Nebenkläger beim Prozess dabei zu sein.“ Als sehr erstaunlich empfand seine Frau, dass kaum jemand von den Familien der Angeklagten den Prozess verfolgte. „Ich denke, die haben verstanden, was ihre Söhne angerichtet haben.“ Eine Entschuldigung hat es nicht gegeben. „Das ist mir auch nicht wichtig. Die einzige Form der Entschuldigung wäre für uns, wenn diese jungen Männer sich in ihrer Gemeinde, in ihrem Viertel, um Gewaltprävention kümmern würden.“
Heute, mehr als drei Jahre nach der Tragödie, hadern sie nicht mehr. Nicht damit, dass Guiseppe das Auto der Mutter eines Freundes, das diese ihm zwei Wochen ausgeliehen hatte, am Abend vor dem Überfall zurückgab. Obwohl sie sagte, er könne es noch ein, zwei Tage haben. Nicht, dass sein bester Freund Raoul nach Hause wollte und Guiseppe obwohl er mit dem Fahrrad unterwegs war, eine Station mit ihm mit der U-Bahn zur S-Bahn fahren wollte. Nicht, dass er nur zwei Sekunden früher oder später über den Kaiserdamm hätte laufen müssen, und heute wohl noch am Leben wäre. „Es ist gesehen. Wir können es nicht rückgängig machen“, sagt Vaja Marcone.
Was ihr und ihrem Mann geholfen hat, war die Gründung der Guiseppe-Marcone-Stiftung. Es war die Idee des Anwalts der Familie. Sie sollten sich auf diese Weise engagieren und sich konstruktiv mit dem Geschehen auseinander zu setzen. Unter anderem initiierte die Stiftung eine Unterschriftensammlung für bessere Sicherheitsbedingungen bei der BVG. 2013 förderte die Stiftung Workshops, in denen Lichtinstallationen am Lietzensee aufgestellt wurden, dem Kiez in dem Guiseppe aufgewachsen und zu Hause war und seine meisten Freunde hatte.
Diesen Winter soll es in Reinickendorf weitere Workshops der Stiftung geben. „Wir wollen mit Flüchtlingskindern, die im Bonhoeffer-Park untergebracht sind, Malen und Zeichnen“, sagt Vaja Marcone. Mitte September 2015, zum vierten Todestag von Guiseppe, sollen die Arbeiten der Kinder auf einem „Fest der Begegnungen“ vorgestellt werden. „Diese jungen Flüchtlinge brauchen unsere Unterstützung. Den Schwächsten helfen, das ist im Sinne von Guiseppe“, sagen Vaja und Antonio Marcone.
Weitere Informationen unter www.giuseppe-marcone-stiftung.de
Es ist wie ein zerschnittenes Mobile – Interview mit Claudia Mihm, Trauerbegleiterin in Hamburg
Wie kam es dazu, dass sie Trauerbegleiterin wurden?
Meine Tochter wurde von einem Geisterfahrer getötet. Der Mann war mehrfach wegen alkoholisierten Fahrens vorbestraft, hatte gar keinen Führerschein mehr. Er erhielt viereinhalb Jahre Haft wegen Fahrlässiger Tötung.
Sie sind Mitglied im „Verein verwaister Eltern und Geschwister Hamburg“. Diesen Verein gibt es auch in Berlin. Welche Hilfe können Eltern, deren Kind bei einer Straftat getötet wurde, in Anspruch nehmen?
Für Eltern gibt es spezielle Gruppen. Natürlich bieten wir zusätzlich Einzelfallhilfe an. Am Anfang geht es in erster Linie darum, über das Furchtbare zu sprechen und zu hören, dass es andere Eltern gibt, denen ähnliches widerfahren ist. Die Betroffenen merken, ich bin nicht allein. Das ist eine große Hilfe. Moderiert werden die Gruppen von Menschen, die ähnliche Erfahrungen haben.
Wir arbeiten mit zehn bis zwölf Eltern in einer Gruppe. In der Regel dauert diese Arbeit bis drei Jahre. Danach sind die Eltern noch lange nicht am Ende des Trauerwegs, aber sie können ihn alleine gehen.
Was sind die größten Hindernisse bei der Trauerarbeit?
Vielfach sind die Eltern nicht darauf vorbereitet, wie alleine sie oft mit ihrem Leid sind. Denn die meisten Menschen gehen ihnen aus dem Weg. Nicht mit schlechten Absichten. Sondern weil Nachbarn und Arbeitskollegen oftmals nicht wissen, wie sie mit so einer furchtbaren Situation umgehen sollen. Sie vermeiden den Kontakt aus Furcht, aus Scham, aus Hilflosigkeit.
Ein anderer Punkt ist das, was wir „den Wunsch nach Hinterhersterben“ nennen. Man möchte tot sein, um mit seinem Kind irgendwo wieder vereint so sein. Obwohl man noch einen Partner oder andere Kinder hat. Das sind Phasen, die überstanden werden müssen und die zu dem Prozess der Trauerarbeit gehören.
Wie gehen Sie damit um, dass viele Eltern in einem solchen Fall verständlicherweise auch voller Wut und Hass auf die Täter sind?
Das ist ein großes Problem. Man muss dieser Wut Raum geben, sie zulassen, aber auch verstehen, dass es nicht um Rache gehen kann. Leider ist unser Justizsystem häufig zu verständnisvoll mit den Tätern. Bei uns wird Steuerhinterziehung härter bestraft als eine Tötung. Dabei sind die Gesetzte eigentlich da, sie müssten nur angewandt werden. In vielen Fällen handelt es sich um Wiederholungstäter. Dann kommt natürlich der Gedankte hoch: Warum wurde der nicht eingesperrt? Dann würde mein Kind noch leben.
Ganz furchtbar ist es für Angehörige, wenn sie noch im Internet von dem Tätern oder deren Umfeld verhöhnt werden, wie im Fall der Schwester von Johnny K. Deshalb begleiten wir auf Wunsch Eltern oder Verwandte auch bei einem Strafprozess.
Nicht nur Eltern sind von einer solchen Tragödie betroffen, sondern auch Geschwister. Wie helfen Sie da?
Für die ist es am schwierigsten, meistens noch schwieriger als für die Eltern. In der Trauerbegleitung heißt es: Wenn Eltern sterben, stirbt die Vergangenheit. Wenn der Partner stirbt, stirbt die Gegenwart. Wenn Kinder sterben, stirbt die Zukunft. Für Geschwister stirbt beim Tod eines Bruders oder einer Schwester alles drei, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Geschwister wollen den Verlust oft kompensieren. Sie reden nicht mit den Eltern über ihren Schmerz.
Geschwisterkinder sind extrem traumatisiert, egal wie alt sie sind. Der Schmerz ist für Geschwister kaum auszuhalten. Dazu verändern sich natürlich die Eltern. Sie haben Kummer, sind traurig, aber auch viel ängstlicher im Umgang mit den Kindern, die noch leben.
Worum geht es bei der Hilfe für Geschwister?
Dabei geht es vor allem darum, ihnen zu zeigen, ihr dürft sein wie ihr seid. Natürlich verändert der Tod das Familienleben. Aber ihr sollt Kinder bleiben. Kinder, die ihre Klamotten im Zimmer herumliegen lassen oder sich mit den Eltern fetzten. Ihr müsst vor allem nicht das tote Geschwisterkind ersetzen. Zum Beispiel, indem das Hobby des verstorbenen Kindes angenommen wird, oder der Berufswunsch. Da versuchen wir, hilfreich zur Seite zu stehen.
Das geschieht mit unterschiedlichen Mitteln, nicht nur reden, sondern auch mit malen oder musizieren. Wir arbeiten auch mit Familienaufstellungen.
Man muss sich vorstellen: die Familie ist ein Mobile, das sensibel austariert in der Balance hängt. Und davon wird ein Stück abgeschnitten. Dieses zerstörte Gebilde versuchen wir in der Trauerarbeit wieder auszubalancieren, mit dem Wissen, es wird niemals wieder aussehen wie vorher.