Gasometer Schöneberg – Alles eine Frage der Perspektive

Seit zehn Jahren führt Sascha Maikowski mit seinem Team hundert Menschen pro Woche auf den Schöneberger Gasometer und erklärt ihnen die Stadt von oben. Dabei war er anfangs gar nicht schwindelfrei

Blick vom Gasometer Schöneberg Richtung Westen, Berlin 2016 © FM Rohm

Blick vom Gasometer Schöneberg Richtung Westen, Berlin 2016 © FM Rohm

„Wissen Sie, was der wichtigste Antrieb zur Industrialisierung Berlins neben der Erfindung der Dampfmaschine war?“, fragt Sascha Maikowski die 7-köpfige Besuchergruppe. Allgemeines Kopfschütteln. „Vielleicht die Eisenbahn“, meint eine Mittfünfzigerin. „Die ist ja auch eine Art Dampfmaschine. Nein, es war das Stadtgas.“ Noch am Boden des innovativen Euref-Campus an der Torgauer Straße beginnt Maikowski einen Exkurs über die Geschichte des Stadtgases.
Schließlich wollen wir ja auf einen Gasometer steigen, der sich hier seit rund hundert Jahren fast achtzig Meter emporreckt. Die meisten in der Gruppe kennen ihn allerdings als „das Ding von Jauch“. Fast fünf Jahre lang moderierte Deutschlands beliebtester Fragensteller seine Sonntagssendung aus dem Schöneberger Gasometer. Dafür wurde eigens eine der größten Traglufthallen Europas in die Stahlkonstruktion gebaut, damit die Gäste bei Regen nicht im Feuchten saßen und damit die Akustik fernsehtauglich war. In nicht all zu ferner Zukunft sollen ein Wohngebäude im Inneren des gigantischen Niederdruckgasbehälters entstehen.
Blick vom Gasometer Schöneberg Richtung Osten, Berlin 2016 © FM Rohm

Blick vom Gasometer Schöneberg Richtung Osten, Berlin 2016 © FM Rohm

Zurück zum Stadtgas. Das entstand ab den 1820er Jahren in Deutschland sozusagen als Abfallprodukt bei der Produktion von Koks. Dieser aus Fettkohle, entweder aus Braun- oder aus Steinkohle unter Abschluss von Sauerstoff gewonnene Brennstoff wurde für die Produktion von Stahl benötigt, denn mit Koks erzielte man eine höhere und konstantere Temperatur als mit Kohle. Außerdem wurde der bei der Stahlproduktion störende Schwefel dadurch von der Kohle getrennt.

Arbeitsplatz: Der Himmel über Berlin

„Mit dem Stadtgas konnte dann die Stadt beleuchtet werden, Straßen und Fabriken. Nur so konnte in zwei oder drei Schichten gearbeitet werden, rund um die Uhr. Denn damals gab es außer Gas ja gar keinen brauchbaren Energieträger, mit dem man Beleuchten konnte. So, und da das durch die Verkokung entstandene Gas gelagert werden musste, wurden die Gasbehälter gebaut, im Volksmund Gasometer genannt.“ Mehr als hundert davon gab es früher in Berlin, allein auf dem Gelände vier Stück, der übriggebliebene zählte zu den drei größten Europas.

Besuchergruppe Gasometer Schöneberg, Berlin 2016 © FM Rohm

Besuchergruppe Gasometer Schöneberg, Berlin 2016 © FM Rohm

Nun muss jeder Teilnehmer noch unterschreiben, dass er keine Forderungen an Maikowskis Firma im Falle eines selbstverschuldeten Unfalls stellt. Abends und nachts gibt es neonfarbene Leuchtwesten für die Teilnehmer, tagsüber Ferngläser.. Leider ist es heute etwas diesig, die Hobbyfotografen mit ihren langen Brennweiten schauen etwas angesäuert. „Für’s Wetter können wir nun mal nichts“, sagt Maikowski und geht die ersten Stufen der doch recht rostigen Stahlleiter nach oben. Sieben Ringe halten den Gasometer zusammen, die alle einmal rundum begangen werden können. Seit Wochen geht es nur bis zum vierten Ring in knapp 50 Meter Höhe. Oben nisten Turmfalken, die Jungen sind zwar schon flügge, stehen aber wie die Eltern unter besonderem Schutz. „Aber 50 Höhenmeter sind auch schon sehr gut. Sie werden alles sehen.“
Zuerst einmal sieht man in Höhe des ersten Rings das Euref-Gelände. „Hier entsteht ein neuer Stadtteil“, erklärt Maikowski. Der weißhaarige ehemalige Reiseleiter nennt sich selbst „Voyageur“. Begeistert berichtet er von Firmen wie eMio, die elektrisch betriebene, vespaähnliche Roller vermieten. Auch mehrere Elektroauto-Vermieter haben hier ihr Hauptquartiert, Deutsche Bahn, Cisco und BMW arbeiten auf einem Campus mit innovativen Start-ups zusammen und die TU bietet drei Studiengänge an, die sich mit Nachhaltigkeit und Ökologie beschäftigten. Gleich neben dem Gasometer klafft eine riesige Baugrube für das nächsten Gebäude. Viele kleine Autowerkstätten an der Torgauer Straße wurden umgesiedelt, durch einen Grünzug führen Fahrradwege.
Blick vom Gasometer Schöneberg Richtung Norden, Berlin 2016 © FM Rohm

Blick vom Gasometer Schöneberg Richtung Norden, Berlin 2016 © FM Rohm

Einen Ring weiter oben, in mehr als 20 Meter Höhe, sieht man, welche Flächen noch in unmittelbarer Nähe Richtung Südkreuz für Bauvorhaben entwickelt werden können. Beim dritten Ring präsentiert sich die ganze Stadt mit unbekannten Sichtachsen. „Dort hinten ist doch das Kraftwerk Lichterfelde. Da wohnen meine Eltern“, ruft jemand. „Ich wohne in Kreuzberg, wo ist denn die Kirche am Südstern?“, fragt ein anderer. „Dort, hinter dem Türmen an der Yorckstraße“, erklärt Maikowski. „Und das da vorne, welche Kirche ist das denn?“, will ein Senior wissen, der seine Enkel mit auf die luftige Tour genommen hat. „Das ist die Apostel-Paulus-Kirche“, erbaut vom Architekten Franz Schwechten. Der hat auch die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche entworfen, und das berühmte AEG-Tor vor dem ehemaligen Werksgelände in Wedding. Die nächste Stunde vergeht mit zahlreichen spannenden und interessanten Architektur- und Stadtgeschichten. Maikowski ist ein sprechendes Lexikon, und weiß immer noch eine außergewöhnliche Seite der Berliner Stadtgeschichte zu erwähnen. „Dort vorne, an der Hauptstraße, wohnten David Bowie und Iggy Pop. Da neben dem Potsdamer Platz, in den Hansastudios, nahm er die Schallplate Heroes auf.“
Blick vom Gasometer Schöneberg Richtung Westen, Berlin 2016 © FM Rohm

Blick vom Gasometer Schöneberg Richtung Westen, Berlin 2016 © FM Rohm

„Irgendwo dort, zwischen Hauptbahnhof und Reichstag“, sei er 1944 in einem Luftschutzkeller geboren. Vielleicht war es diese bedrückende, furchterregende Enge, die ihn genauso wie der Muff der Fünfziger Jahre dazu brachte, aufzubrechen. Zuerst Anfang der Sechziger Jahre nach Frankfurt am Main, wo er Soziologie studierte. „Ich habe in der WG geschlafen, in der Joschka Fischer wohnte. Der fuhr damals Taxi“. Später zog es ihn in die Welt, er wurde Reiseleiter in Südamerika, Afrika und Asien, zählte in einigen Gegenden zu den ersten in Australien und Neuseeland.
 

Man sieht im Wochentakt, wie die Stadt sich verändert

Sascha Maikowski, Guide Gasometer Schöneberg, Berlin 2016 © FM Rohm

Sascha Maikowski, Guide Gasometer Schöneberg, Berlin 2016 © FM Rohm

Fast vierzig Jahre war er unterwegs, nie länger als ein Jahr in einem Land, zuhause auf allen Kontinenten, bis es ihn 2005 wieder nach Berlin zog. „Ich habe angefangen, Touren für Touristen aus Übersee in Englisch zu organisieren“, erzählt er. Durch Zufall kam er zum Gasometer. Anfangs als einer von vielen Guides, die eineinhalb-stündige Touren durchführten. „Die ersten Monate hatte ich echt mit meiner Höhenangst zu kämpfen“, gesteht er, doch mittlerweile freut er sich schon, wenn die obersten drei Ringe freigegeben sind, und er in 78 Metern Höhe „nichts mehr über mir ist, als der Himmel“.
Als die Betreiberfirma sich zurückzog, das Geschäft ist schwierig, da bei Wind und schlechtem Wetter nicht geführt werden kann, die Saison geht nur von April bis Oktober, sprach man Maikowski an, ob er nicht die Führungen organisieren wolle. Nach kurzer Bedenkzeit nahm er an. Wie viele seiner Guide-Kolleginnen und –Kollegen war ein sozusagen im Höhenrausch. „Ich finde diese Arbeit sehr spannend, weil man sozusagen im Wochentakt sieht, wie die Stadt sich verändert“, sagt er. Als er mit den Führungen begann, bestimmten Europa-Center und Bayerhochhaus am Zoo die Skyline der City-West. Heute recken sich hier das Waldorf-Astoria und das Upper West in den Himmel über Berlin.
Sascha Maikowski hat das Gefühl, dass sich mit seinem Job am Gasometer ein Lebenskreis schließt. „Hat doch was für sich, wenn man die Dinge von oben betrachtet“, sagt er. Dann zeigt er auf Reichstag und Kanzleramt. „Schauen Sie sich das an. Von hier aus sieht es aus, als stünden die beiden Gebäude weit voneinander entfernt. Dabei wissen wir ja, das sind keine 350 Meter. Sie sehen, alles eine Frage der Perspektive.“

 

Kieztipps: Molle und Sandwichs

Resonanz Eine echte Berliner Eckkneipe, mit super Neulandfleisch-Bouletten und selbstgemachtem Kartoffelsalat. Das Ganze mit einer richtig freundlichen Crew. Ebersstraße 66, Tel. 781 46 34, täglich ab 17 Winter ab 18 Uhr

Jansen Bar DIE Destille der Roten Insel. Gegenüber wohnte in den der Jazz Pionier Alfred Löw, Gründer des weltbekannten Blue Note Records Plattenlabels in New York. Gotenstr. 71, Di bis So 20- 2, Sbd 3 Uhr, www.jansenbar.de

Café Peppe nettes kleines Café, gute Sandwiches und guter Espresso, Torgauer Str. 2,Tel. 78 09 51 67, Mo-Fr 8-20, Sbd + So 10-20 Uhr, auf Facebook

Schöneberg Museum und Jugend Museum Sehr gute Geschichtsvermittlung und anschauliche Ausstellung über Einwanderer. Hauptstr. 40 /42, Tel. 90 277 61 63, Mo-Do 10-18, Fr 10-14, Sbd +So 10-15 Uhr, www.museentempelhof-schoeneberg.de

 

Gasometertouren

Gasometer Schöneberg, Berlin 2016 © FM Rohm

Gasometer Schöneberg, Berlin 2016 © FM Rohm

Die 80-minütigen Touren finden meist an Freitagen und Samstagen, nachmittags und abends statt, manchmal auch nachts, ab 22 Euro. Anmeldung und Bestätigung über gasometertour@gmail.com

Veröffentlicht unter Reportagen Getagged mit: , , ,