Du sollst nicht stehlen heißt es in der Bibel. Aber das siebte Gebot gilt immer weniger. Inzwischen sogar auf Friedhöfen.
„Wir hoffen, dass es diesen Sommer nicht so schlimm wird wie vergangenen“, sagt Ellen Juhnke. Sie ist Inspektionsleiterin für die Pflege und Unterhaltung der zehn bezirkseigenen Friedhöfe in Steglitz-Zehlendorf. Beim Thema Metalldiebstahl schwankt ihre Stimme zwischen Wut und Resignation. Vergangenes Jahr hatte es einen „regelrechten Raubzug“ über die Friedhöfe Bergstraße, Onkel-Tom-Straße und Waldfriedhof Dahlem gegeben. Dabei wurden von allen Kapellen die kupfernen Wasserfallrohre und Regenrinnen abgerissen. Denn für dieses sogenannte Buntmetall bekommen sie bei kriminellen Schrotthändlern die besten Preise. Derzeit sind das etwa vier Euro pro Kilo. Außerdem werden im Jahr zwischen 50 und 100 Wasserhähne von jedem der zehn Friedhöfe im Südwesten Berlins gestohlen.Immer wieder erschrocken ist Ellen Juhnke über die Rücksichtslosigkeit und Dreistigkeit der Täter. Erst am Montag dieser Woche berichtete Peter Wittkowski, Leiter des Friedhofs an der Bergstraße in Steglitz, vom Diebstahl von zehn bronzenen Blumenvasen und Laternen. Nicht nur Metall werde mittlerweile gestohlen, „sogar vor dem Diebstahl von Grabsträußen, Kränzen und ganzen Grabbepflanzungen machen die Friedhofswilderer nicht mehr Halt,“ so Ellen Juhnke.
Kann man diese Diebstähle nicht verhindern? Sie weist darauf hin, dass es für Friedhofsangestellte nicht immer einfach sei, in einer solchen Situation angemessen zu reagieren. „Woran erkennt man, dass jemand den Blumenstrauß, den er in der Hand hält, geklaut hat? Das geht nur, wenn man den Dieb direkt dabei beobachtet.“ Zudem sei die Personaldecke durch zahlreiche Sparmaßnahmen der vergangenen Jahre so dünn, dass eine präventive Beobachtung gar nicht möglich sei. Friedhofspförtner wie in vergangenen Zeiten gebe es schon länger nicht mehr.
Heute wäre eine Abschreckung nur mit technischen Mitteln möglich. So überlegte die Friedhofsverwaltung auf dem Urnenfriedhof an der Gerichtsstraße in Wedding nach massiven Urnendiebstählen 2012, eine Videoüberwachung einzuführen. Doch es gab datenschutzrechtliche Vorbehalte. Daraufhin wurde auf den Einsatz von Kameras verzichtet. Auf den Friedhöfen in Steglitz-Zehlendorf reagiert die Verwaltung bislang mit Aushängen, die bei einer Häufung von Vorfällen zu größerer Vorsicht mahnen.
In jedem Fall rät Ellen Juhnke, den Diebstahl anzuzeigen. Nur so könne auch die Polizei sensibilisiert werden. Allerdings scheuten gerade alte Menschen den Gang zur Polizei. Zumal die Erfolgsquote sehr niedrig ist. Eingeschmolzen kann kein Straftatverfolger der Welt die gestohlene Grabeskunst ausfindig machen.
Nur ein einziges Mal wurden im Bezirk Steglitz-Zehlendorf Diebe auf frischer Tat geschnappt. Allerdings durch Zufall. Als Metallwilderer am Parkfriedhof Lichterfelde gerade eine Bronzestatue ins Auto laden wollten, kam zufällig eine Polizeistreife vorbei. „Besonders ärgerlich ist, dass der entstandene Sachschaden um ein vielfaches höher ist als das, was die Diebe für das Metall bekommen“, beklagt Inspektionsleiterin Juhnke.
In welcher Relation das Verhältnis von Schaden zum Verkauf des gestohlenen Kupfer steht, können Ulf Tornow und Bertram von Boxberg von der Evangelischen Zwölf-Apostel-Gemeinde in Schöneberg ziemlich genau beziffern. Vor drei Jahren rissen Grabräuber die Kupfer-Verkleidung von zwei Nebengebäuden des Mausoleums der preußischen Finanziers-Familie Hansemann auf dem Alten Sankt-Matthäus-Kirchhof an der Großgörschenstraße ab. „Der Schwarzmarktwert des Kupfers belief sich auf rund 600 Euro. Der Schaden betrug mehr als 10 000,“ erklärt Ulf Tornow. Denn die Räuber erhalten oft noch nicht einmal den Materialwert. Was die Reparaturen so teuer macht, ist die Arbeitszeit, die nötig ist, das Metall in Form zu treiben, kunsthandwerklich zu verzieren und fachgerecht zu verlegen. Die beiden Dächer des mehr als hundert Quadratmeter großen Hansemann-Mausoleums sind heute provisorisch mit Dachpappe gedeckt. Auch das Dach des Mausoleums der Familie Herpich wartet drei Jahre nach einem Metalldiebstahl auf eine neue Abdeckung. Eigentlich muss sich jeder Berliner Schrotthändler beim Ankauf von Kupfer oder Bronze den Ausweis des Verkäufers zeigen lassen. „Tja, offensichtlich ist das nicht bei allen Schrotthändlern der Fall“, stellt Ulf Tornow fest.
Auch von den beiden anderen Friedhöfen der Gemeinde, dem Alten Zwölf-Apostel-Friedhof an der Kolonnenstraße und den Neuen Friedhof am Werdauer Weg, beide ebenfalls in Schöneberg gelegen, wurden mehrfach die kupfernen Fallrohre und Dächer der Kapellen gestohlen. „Man kann davon ausgehen, dass die Diebe sich vorher genau umsehen und dann zuschlagen“ erklärt von Boxberg. Beim Diebstahl von Buchstaben sei von Auftragsdiebstahl auszugehen.
Auf den größten Friedhof für Berliner, dem Südwestkirchhof in Stahnsdorf kamen die Diebe 2013 sieben Mal und stahlen von Mausoleen die Kupferdächer, berichtet Friedhofsleiter Olaf Ihlefeldt. Der Schaden belief sich auf rund 140 000 Euro. Noch heute ist er außer sich, wenn davon erzählt. So etwas habe er in seinen 26 Dienstjahren nicht erlebt.
Das bekannteste der sieben Mausoleen war das der Familie Langenscheidt. Das Grabmal wurde im Rahmen der Speerschen Stadtplanung für die zukünftige NS-Hauptstadt Germania 1938/39 vom Alten Sankt-Matthäus-Kirchhof nach Stahnsdorf zwangsumgebettet. Nach dem Metallraub 2013 finanzierte die Familie der Wörterbuch-Verleger eine Notsicherung. Ein neues Dach muss über Fördergelder finanziert werden. Das Kupferdach des historischen Christusreliefs nahe dem Eingang wurde sogar dreimal gestohlen. „Nach dem dritten Mal haben wir gesagt ‚Schluss, jetzt kommt Zinkblech drauf’. Obwohl es furchtbar aussieht.“
Die derzeitige Situation sieht Ihlefeldt als „eine gesellschaftliche Fehlentwicklung“. Von gelegentlichen Blumenstraußdiebstählen in den Siebziger- und Achtzigerjahren über Vandalismus wie Grabsteinumwerfen ab den Neunzigerjahren zum massenhaften Metalldiebstahl sei die Entwicklung gegangen. „Das ist ein allgemeines Problem.“ Die Würde der Toten habe keinen Wert mehr. Für Ihlefeldt sind Friedhöfe in den vergangenen Jahren zu Fundgruben und Ersatzteillagern degeneriert.
"Friedhöfe degenerieren zu Fundgruben und Ersatzteillagern", Olaf Ihlefeldt, Südwestfriedhof Stahnsdorf
Mit mehr als 200 Hektar zählt der Südwestkirchhof in Stahnsdorf zu den größten Europas und wird von Fachleuten in einem Atemzug mit Venedigs Toteninsel San Michele, dem Wiener Zentralfriedhof und dem Père Lachaise in Paris genannt. Die schiere Größe des 1909 eröffneten Friedhofs mit prominenten Gräbern wie dem von Heinrich Zille, Rudolf Breitscheid, Lovis Corinth oder Otto Graf Lambsdorff macht eine Überwachung unmöglich. „Obwohl ich Streife fuhr, war eines der größten Mausoleen am folgenden Morgen abgedeckt,“ berichtet Ihlefeldt. Für ihn sind es „Spitzbuben, Hochkriminelle und Vandalen“, die seinen Friedhof immer wieder heimsuchen.
Der 47-Jährige ist sehr frustriert, denn er sieht nicht, dass sich die Situation bessern wird. „Höchstens, wenn der Kupferpreis in den Keller geht.“ Da das absehbar nicht geschieht, rechnet er mit weiteren Diebstählen. „Wir bräuchten hier eine Hundertschaft, um das zu verhindern“, konstatiert Ihlefeldt. Oder einen richtigen Zaun. Dafür allerdings ist kein Geld da, schon gar nicht, nachdem jetzt erst einmal die Dächer der Mausoleen instandgesetzt werden müssen.
Nicht nur Kupferdächer und kupferne Rohre werden geklaut. Ihlefeldt zeigt auf zahlreiche Grabsteine, auf denen keine aufgesetzten Namenszüge mehr zu sehen sind. „Die werden einfach abgerissen, oder mit einem Bolzenschneider entfernt.“ Alle paar Gräber sieht man solche Beschädigungen. Auch Figuren und Reliefs aus Bronze oder Messing sind das Ziel der modernen Grabräuber.
„Den neuen Grabbesitzern raten wir stark ab, Kupfer oder Bronze bei den Namenszügen zu verwenden“, erklärt Tornow an der Grabstätte von Bertha Sauer. Deren Bronzerelief und eine Bronzefigur wurden ebenso gestohlen wie die Bronzefigur in der hölzernen Grabstele des Journalisten Hans Scherer. Mehrere Jahre lang ersetzte eine Aluminiumfigur die Skulptur. Heute steht wieder eine Bronzefigur am Grab, in Auftrag gegeben von Freunden und Verwandten. Denn der Friedhof ist sicherer geworden.
„Wir haben vor zwei Jahren mit polizeilicher Hilfe herausgefunden, dass die Diebe immer über eine bestimmte Mauer an den Bahngleisen geklettert sind“, erklärt Ulf Tornow. „Dann haben wir dort ein hohes Gitter angebracht und es zusätzlich mit Stacheldraht gesichert. Seither wird viel weniger gestohlen.“ Außerdem werde der Prominentenfriedhof viel besucht, regelmäßig gibt es Gruppenführungen. „Und durch die vielen Patenschaften herrscht ebenfalls regelmäßiger Besucher-Betrieb“, ergänzt von Boxberg.
Das ist auf dem Stahnsdorfer Südwestkirchhof ganz anders. Mehr als 120 000 Gräber verteilen sich auf einer Fläche größer als der Berliner Tiergarten. Durch die üppige Vegetation sind nur kleine Bereiche einsehbar. „Es wird geklaut, was nicht niet- und nagelfest ist“, stellt Friedhofsleiter Olaf Ihlefeldt fest. Zwar wurde mit Mitteln der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz ein neues Eingangstor mit Pollern gebaut, aber das reicht leider nicht. Einmal war es der Polizei sogar fast gelungen, einen Grabräuber dingfest zu machen. „Die Polizisten hatten sich auf die Lauer gelegt. Und dann ist er im letzten Moment entwischt und über die Gräber geflohen“, sagt Ihlefeldt.
Nach wie vor arbeitet er mit den Behörden an Strategien der Prävention, die er allerdings nicht öffentlich publik machen möchte. Auch Gespräche mit Einbruchsexperten haben mehrfach stattgefunden. „Aber ein überzeugendes Konzept wurde uns bislang noch nicht vorgestellt.“ Zur Vermeidung von Diebstählen rät er „Materialien zu verwenden, die Bronze oder Kupfer ähnlich sehen“.
Auf dem Schöneberger Alten Sankt-Matthäus-Kirchhof führen Ulf Tornow und Bertram von Boxberg zur Grabstelle von Gustav Richter. Auf dem Grabstein des 1884 verstorbenen Verwaltungsbeamten steht eine fein herausgearbeitete Büste. „Sieht aus wie Bronze“, sagt Tornow, „ist aber Beton.“