Alles halb so schlimm?

Für die Berliner Gastronomie steht nach Corona, Ukraine-Krieg und Mehrwertsteueranhebung bis Ende September die Abrechnung über möglicherweise zu viel erhaltener Corona-Hilfen an. Ein Stimmungsbild

Jonathan Kartenberg vom Sternerestaurant Irma La Douce serviert seit September preiswertes Mittagsmenü.

„Mehr als 20 Prozent der rund 9.000 Berliner Gastronomie-Betriebe könnten das Jahr nicht überleben“, konstatiert Gerrit Buchhorn, seit diesem Jahr Hauptgeschäftsführer des Hotel- und Gastronomieverband Berlin, DEHOGA Berlin. Die Investitionsbank Berlin, IBB, bezeichnet die Situation zwar auch als angespannt und herausfordernd. Allerdings betont IBB-Pressesprecher Jens Holtkamp eine Gewerbeabmeldungszahl von mehr als 20 Prozent pro Jahr in der Gastronomie sei normal. Denn: „Etwa genau so viele Gewerbeanmeldungen zählen wir pro Jahr.“

Als besonders gefährdet sieht DEHOGA-Geschäftsführer Buchhorn derzeit „kleinere, unabhängige Betriebe, die von hohen Mieten, steigenden Rohstoffkosten und Personalmangel betroffen sind. Auch aus dem Fine Dining-Bereich hören wir, dass Gäste mit der entsprechenden Kaufkraft fehlen.“ Obwohl die Abgabefrist seit 30. Juni 2022 bereits mehrfach verschoben wurde, wünscht sich Buchhorn „mehr Flexibilität bei den Rückzahlungsmodalitäten, um die wirtschaftliche Erholung nicht weiter zu belasten.“

Gastronomie in Berlin ist kein Selbstläufer mehr

Gastronom Alexander Freund (li) und Executive Chef Philipp Bergk.

Das wünscht sich auch Alexander Freund, Betreiber der Restaurants „Pirates“ an der Oberbaumbrücke, „Jäger und Fischer“ im Nikolaiviertel, „Jäger und Lustig“ in Friedrichshain und dem im Sommer eröffneten „Beast“ und „Presseclub“ am Alexanderplatz. Rund 1.500 Sitzplätze hält der Gastronom vor, und beschäftigt mehr als 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wie viele seiner Kollegen bemerkt auch er, dass „die Leute ihr Geld dosierter ausgeben.“ Für den 48-Jährigen ist klar: „Gastronomie in Berlin ist kein Selbstläufer mehr.

Überlebenswichtig sind laut Freund zwei Dinge: „Die konzeptionelle Ausrichtung muss klar sein. Die Gäste wollen wissen, was sie erwartet. Zum anderen muss man sofort reagieren, wenn ein Konzept nicht so angenommen wird, wie geplant.“ Das zeigt sich auch an seiner Neueröffnung im ersten Stock über dem ehemaligen „Pressecafé“ aus DDR-Zeiten. Noch vor Corona als reines Steak-Haus konzipiert, habe sich die Nachfrage bis zur Eröffnung in diesem Frühjahr geändert. „Nur Fleisch funktioniert nicht mehr“, sagt Philipp Bergk. Der neue Küchendirektor für alle vier Betriebe von Freund hatte mehrere Jahre lang dieselbe Position bei Roland Mary inne, dessen „Borchardt“ und „Café am Neuen See“ stadtbekannt sind.

Pressecafé von Alexander Freund.

Nun überführt Bergk das „Beast“ weg vom reinen Fleischtempel hin zu einem „Supperclub“ mit Unterhaltungsprogramm wie Live-Musik und DJ. Kulinarisch bedeutet es eine Erweiterung um Speisen wie Ceviche, Austern, Thunfisch, aber auch vegane Gerichte wie Spitzkohl aus dem Grillofen, gegrillter Blumenkohl oder Gemüse-Tofu-Spieß mit Jalapeño-Pürée. Um auch weniger betuchte Gäste anzusprechen, stehen Steak-Fritz mit 180-Gramm Entrecôte, gelber Grilltomate, Fries und hausgemachter Sauce Bearnaise für 26 Euro und Barbie-Cut Filet für die Damen in 150-Gramm-Portion für 27,50 Euro auf der Karte. „A und O ist natürlich die Kundenzufriedenheit“, sagt Philipp Bergk. Deshalb finde in allen Restaurants täglich ein 20- bis 30-minütiges Service-Treffen statt „Nur ein Gast, der sich wohlfühlt, wird zum Wiederholungstäter“, weiß Alexander Freund.

Kristof Mulack berät Berliner Gastronomen.

Auf Kristof Mulacks Unterarm ist das Tattoo „Allways hungry“ zu sehen. Der gebürtige Berliner hatte länger als Versicherungskaufmann gearbeitet. Als er 2015 mit seinem Hobby Kochen in der SAT1-Show „The Taste“ gewann, wechselte er in die Gastronomie. Mit offener Küche und Speisen wie ganzer Broiler zum Teilen eröffnete er kurz darauf das „Tisk“ in Neukölln, wurde als Szene-Restaurant bei den Berliner Meisterköchen ausgezeichnet. Vier Jahre später verließt er den Herd. Seitdem berät er Gastronomen, sorgte mit dem Konzept des „Lausebengel“ in Kreuzberg für Aufsehen und beriet in der Anfangsphase die Betreiber des 2023 mit einem Stern prämierten „Bonvivant“. Aktuell arbeitet er neben Show-Cooking-Events als Berater für das Projekt „Spree Fumée“, gedämpfte Speisen auf einem Schiff.

„Corona hat viele kleine Läden weggefegt. Aber die Gastronomie ist immer noch ein wesentlicher wirtschaftlicher Faktor der Stadt. Nur hat sich die Situation in den letzten Jahren verändert. Arm aber sexy ist vorbei. Die Schere zwischen kleinen Läden und solchen, in die Investoren jede Menge Kohle blasen, wird größer. Die Masse setzt auf Burger, Pizza, Street Food und Lieferservice.“ Der 41-Jährige wünscht sich mehr „politische Unterstützung und einen einheitlichen, niedrigeren Steuersatz für die Gastronomie, ganz gleich ob es um Getränke, Essen oder Lieferservice geht“.

Jules Winnfield vom Sternerestaurant Sternerestaurant Bonvivant setzt auch auf Kochkurse.

Als Jules Winnfield, einer der Betreiber des vegetarisch-veganen „Bonvivant“ mit 31 Jahren 2019 kurz vor Corona das Restaurant in der Schöneberger Szenemeile Goltztstraße eröffnete, „waren die tollen Zeiten der Berliner Gastronomie schon fast Geschichte“. Von Beginn an nutzte er das gesamte Spektrum an Möglichkeiten. „Dazu gehören ganz klar Instagram, Facebook und alle anderen sozialen Medien. Viele Gastronomen kennen deren Potenziale bis heute nicht“, sagt der gebürtige Schöneberger.

„Als wir vergangenes Jahr den Stern erhielten sagten viele, also Frühstücks-Brunch, das müsst ihr doch nicht mehr machen. Doch, machen wir“, so Winnfield. Und nicht nur das. Wer mit Sternekoch Berger einen Kochkurs absolvieren will, kann das. Als ein langjährig betriebener Second-Hand-Modeladen nebenan altersbedingt aufgegeben wurde, baute Winnfield die Räume zu einer Showküche um.

Die Kurse von alkoholfreier Cocktail für 59 Euro über mediterrane, asiatische und vegane Küche, Sauerteigbrotbacken, Weihnachtskochkurs, alle 119 Euro, bis zu Kochen mit dem Sternekoch, 300 Euro, sind gefragt wie nie zuvor. So hoch ist die Nachfrage, dass Winnfield gerade am Kottbusser Damm eine 230-Quadratmeter-Fabriketage zu einem modernen Kochstudio für 60 Personen ausbauen lässt.

Wieder mehr für Berlinerinnen und Berliner kochen

Im Sterne-Restaurant „Irma la Douce“ an der Potsdamer Straße bietet Gastronom Jonathan Kartenberg seit September unter der Woche einen günstigen Mittagslunch an. „Wer sich jetzt nicht bewegt, wird auf Dauer ein Problem bekommen“, sagt der 32-Jährige. Für ihn sind „die Zeiten, in denen pekuniär gut gepolsterte Touristen die Sternerestaurants ausbuchen, „absolut passé. Wir müssen wieder für die Berlinerinnen und Berliner kochen.“

Den Lunch unter der Woche serviert er persönlich. „Wenn man keine Servicekräfte hat, muss man selbst ran“. Auf der wöchentlich wechselnden Karte stehen preiswerte Pasta des Tages, Risotto mit Austernpilzen oder Ochsenbäckchen mit Karotten, zubereitet von Sternekoch Francesco Contiero, zu Preisen von 11,50 und 16 Euro. Das schnell servierte Essen in ausgezeichneter Qualität soll für „mehr Besucherrauschen“ sorgen. Auch an der Abendkarte wird er Änderungen vornehmen. „Starre Menüs mit einer vorgegebenen Weinbegleitung betrachte ich als beendet.“ Das macht Kartenberg auch in seinem Fine Dining Restaurant „Eins44“ in Neukölln. Ab sofort gibt es dort neben gehobener Küche von Küchenchef Julius Nowak genauso „die gute alte Hausfrauenkost“.

Jonathan Kartenberg vom Sternerestaurant Irma La Douce serviert seit September preiswertes Mittagsmenü.

So stehen neben confiertem Kabeljau mit Gartenbohnen, Guanciale und Bohnenkrautsud für 37 Euro klassische Fish & Chips für 24 Euro, neben Sommerpilzravioli an Petersilinnapage und Belper Knolle für 33 Euro auch ein Perlgraupenrisotto mit Champignons für 18 Euro auf der Karte. „Alles mit hochwertigen Produkten von unserer Küchencrew zubereitet wie die Fine-Dining-Gerichte”, sagt Jonathan Kartenberg. Für kleines Geld will er auch Klassiker wie Hühnerfrikassee mit Erbsen und Reis, Kalbsleber Berliner Art oder Pochiertes Ei mit Kräutern und Mayonnaise bieten.

Die IBB sieht Licht am Ende des Tunnels. „Im ersten Halbjahr 2024 hatten wir rund 370 mehr Gewerbeanmeldungen als -abmeldungen“, stellt Pressesprecher Jens Holtkamp fest.

Beast, Memhardstraße 6, Mitte, Tel. 25 81 76 96, täglich 17-2 Uhr, www.beast-berlin.com

Bonvivant, Goltzstraße 32, Schöneberg, Tel. 0176-61 72 26 02, Brunch Mi.-So.10-15, Dinner & Drinks Di.-Sbd. ab 18 Uhr, www.bonviant.berlin

Irma la Douce, Potsdamer Straße 102, Tiergarten Tel. 23 00 05 55, Lunch Mo.-Fr. 12-14 Uhr, www.irmaladouce.de, Restaurant eins44, Elbestraße 28/29, Neukölln, Tel. 62 98 12 12, Di.-Sbd. 18-23 Uhr, www.eins44.com

Gastronomie-Beratung: www.dehoga-berlin.de/beratung/betriebsberatung-gastronomie/

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