Bei Dörthe Kittel steht mit vier Plastikkisten voller Bärlauch am nordöstlichen Rand des Platzes. Bei ihr wird es auch nächste Woche noch die aromatischen, sattgrünen Blätter geben. Sie pflückt den im Volksmund Waldknoblauch oder Hexenzwiebel genannten Bärlauch in kühleren Regionen im Harz und bringt ihn donnerstags zum Wittenbergplatz-Markt. Zwei Tage später steht sie auf dem Ökomarkt am Kreuzberger Chamissoplatz.
Seit zwanzig Jahren verkauft sie Bärlauch auf Märkten. Dieses Jahr erlebte sie erstmals, dass bereits Ende Februar „die ersten Blätter im Wald sprossen“. Einen Euro kostet ein Bund zurzeit bei ihr. Das reicht für einen vitaminreichen Kräutersalat, oder würzigen Bärlauchquark. Größere Mengen verarbeitet sie zu Kräuterbutter und als Pesto. „Auf diese Weise kann man Bärlauch gut konservieren“, sagt Dörthe Kittel. Denn die zarten Blätter sind empfindlich und welken schnell. Deshalb dauert die Freilandsaison auch nur vier bis fünf Wochen. Ab Mitte Mai kommt Zuchtware. Beim Selbstpflücken rät die Händlerin zur Vorsicht: Maiglöckchen- und Herbstzeitlose-Blätter sehen ähnlich aus, sind aber hochgiftig.
Einen halben Kilometer vom Wittenbergplatz entfernt erfährt Bärlauch im Sternerestaurant Les Solistes im Waldorf Astoria seinen kulinarischen Ritterschlag. Chefkoch Roel Lintermans zelebriert im edlen Ambiente moderne französische Küche im Stil von Meisterkoch Pierre Gagnaire.
„Bärlauch spielt in der Regel eine Nebenrolle, die mit frischem Lauchgeschmack die Hauptelemente eines Tellers begleitet“, erläutert Lintermans. Mit dem knoblauchähnlichen Lauchgewächs verbindet der 36-jährige gebürtige Belgier seine Zeit im Berner Sterne-Restaurant Schöngrün. „Wie eine Wiese“ seien die Pflanzen gleich nebenan gewachsen, wochenlang musste die komplette Brigade nach dem Lunch die zwanzig bis dreißig Zentimeter langen, breiten Blätter pflücken und anschließend in der Küche kleinhacken. Heute bringen Lieferanten den Bärlauch, das Kleinschneiden übernimmt der Thermomix.
Empfindlicher Übergangsgast
Im Les Solistes schickt Roel Lintermans den exquisiten Hauptgang mit Tandoori-gewürztem Seeteufel, gebratenem Granny Smith, Zitronenpaste und Auberginen-Kaviar-Croutons auf einem Bärlauchbett. Den feinen Lauch hackt und blanchiert er kurz, bevor er ihn püriert. Anschließend mischt er Semmelbrösel, etwas Butter und Zitronenabrieb unter, rollt den Teig kreisrund aus, schiebt ihn kurz in den Ofen und richtet an. Das Ergebnis ist ein balanciertes Spiel salziger Aromen von Fisch und Aubergine, Säure und Süße des Apfels mit bitterer Zitrone und dem herzhaften Geschmack des Bärlauchbetts. Auch bei der mit Innereien-Farce gefüllten Milchlammschulter mit Aprikosen und Einkorn-Risotto spielt Bärlauch bei Lintermans seine Nebenrolle perfekt.Im vegetarischen Cookies Cream in Mitte verarbeitet Küchenchef Stephan Hentschel derzeit täglich zwei Bunde Bärlauch. Ihn begeistert vor allem der „sanfte Geschmack und die satte Farbe“ des Krautes. Auch bei dem 32-jährigen Kreativkoch übernimmt eine Maschine das Kleinschneiden und Pürieren. Danach ist Bärlauch „fast universell“ einsetzbar, „außer beim Dessert“.
Im Cookies Cream kommt nach der Bestellung ein Bärlauch-Schnittlauch-Frischkäse mit frischem Brot auf den Tisch. Zwar werden die grünen Blätter klassischerweise für Frühlingssuppe, Pasta, Gnocchi oder Kartoffelpüree verwendet, doch das ist Hentschel entschieden zu profan. Und so stellt er zum exzellenten Hauptgang von geröstetem Blumenkohl mit Paprika-Gremolata und Gemüsejus ein Glas frisch eingerührter Bärlauchpolenta. Die begeistert durch ihre Frühlingsfarbe, die cremige Struktur und den dezenten Lauchgeschmack. Für Henschel ist Bärlauch „ein gerne gesehener Übergangsgast. Wenn er aus der Küche verschwindet, beginnt kulinarisch der Sommer“.
Cookies Cream, Behrenstraße 55/56, Mitte, Tel. 27 49 29 40, Di.-Sbd. ab 19 Uhr, www.cookiescream.de
Dörthe Kittel, Markt am Wittenbergplatz, Schöneberg, Do. 10-18 Uhr, Ökomarkt am Chamissoplatz, Kreuzberg, Sbd 9-15 Uhr
Les Solistes by Pierre Gagnaire im Waldorf Astoria, Hardenbergstraße 28, Charlottenburg, Tel. 81 40 00-0, Mo.-Sbd. ab 19 Uhr, www.waldorfastoriaberlin.com